Juan Martin del Porto - der Golden Retriever des Tennis

Ein Guter: Juan Martin del Potro
© getty

Vor wenigen Tagen ist die aktualisierte und erweiterte Neuausgabe des Buchs 111 Gründe, Tennis zu lieben erschienen - bei uns könnt ihr in den kommenden Tagen etwas reinlesen.

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Als ich Juan Martin del Potro zum ersten Mal begegnete, fiel mir vor allem eines auf: extreme Langsamkeit. Es war auf dem Stuttgarter Weissenhof im Jahr 2008, und del Potro hatte scheinbar die Absicht, den Rekord als derjenige Spieler aufzustellen, der zwischen den Ballwechseln im größtmöglichen Zeitlupentempo von einer Seite auf die andere schleicht.

Was seine Karriereplanung anging, schien Delpo jedoch genau in diesen Tagen das Tempo anziehen zu wollen. Er gewann in Stuttgart seinen ersten ATP-Titel, im direkten Anschluss auch Kitzbühel, Los Angeles und Washington, er schloss 2008 unter den Top Ten der Tenniswelt ab. Im Jahr darauf erreichte er das Finale in Flushing Meadows und traf auf den Mann, der die vergangenen fünf Jahre dort gesiegt hatte - Roger Federer. Der Schweizer führte mit 2:1-Sätzen, aber mit jedem Durchgang, so schien es, schoss del Potro seine Vorhand-Granaten schneller auf die Gegenseite; ­Federer wirkte zum Ende wie einer, der dem heutigen Spiel auf lange Sicht nichts mehr entgegenzusetzen haben sollte (was Gott sei Dank nicht so war). Eurosport-Kommentator Matthias Stach legte sich zum Ende der Begegnung fest: Wenn del Potro nicht die künftige Nummer 1 der Welt wird, dann ...

Dann kam 2010. Und der Beginn der großen Leidensgeschichte des »Turms von Tandil«. Eine OP am rechten Handgelenk, drei am linken Handgelenk sowie ein Beinahe-Karriereende 2014 und 2015, Gerüchte über Depressionen und bewegende (ebenfalls äußerst langsam vorgetragene) Facebook-Videonachrichten an seine Fans, wo und wie es denn vielleicht irgendwann wieder weitergehen könne.

Die lang ersehnte Rückkehr auf die Tennisbühne 2016 wurde zu einer Sternstunde: Del Potro - zunächst fast ausschließlich mit Rückhand-Slice unterwegs - gewann gegen Novak Djokovic und Rafael Nadal bei den Olympischen Spielen. Er besiegte Andy Murray im Davis Cup. Er holte das so wichtige Davis-Cup-Finalmatch gegen Marin Cilic nach 0:2-Satzrückstand (mit gebrochenem kleinen Finger an der rechten Hand), machte Argentinien erstmals zum Davis-Cup-Sieger und sich selbst unsterblich.

»Das Glücksgefühl, Juan Martin del Porto zuzuschauen«, betitelte Louisa Thomas einen wunderbaren Essay in The New Yorker im September 2016. »Er hat einen Körper, der Menschen nervös machen sollte - mit 1,98 Meter und 97 Kilo -, aber das Herz eines Golden Retrievers«, schrieb Tom Perrotta im Wall Street Journal über den Rückkehrer, dem die Herzen der Fans (und Kollegen!) zuflogen, wo er auch nur auftauchte. Ausdauernde Umarmungen der unterlegenen Spieler sprachen Bände über die Beliebtheit des Argentiniers; vielleicht lag auch der ein oder andere Funke Erleichterung darin, selbst nicht dessen Leidensgeschichte mitgemacht zu haben. Djokovic, nach seiner Olympia-Niederlage am Boden zerstört, präsentierte sich als Paradebeispiel eines guten Verlierers und nahm del Potro beim Handshake gefühlte Ewigkeiten in den Arm; beim US-Open-Match gegen Stan Wawrinka war es das New Yorker Publikum, das seinen Delpo mit Standing Ovations noch während des Matches zu Tränen rührte - ein Moment, der wohl für jeden Sportler der ultimative Liebesbeweis ist. »Ich bin sehr stolz darauf, weil ich glaube, dass sie es schätzen, was ich durchgemacht habe, um wieder hierherzukommen«, sagte der Gefeierte selbst nach seiner Niederlage. »Es ist unglaublich, wie viel Liebe ich überall empfange.«

Dass del Potro sich um seinen ganz besonderen Legendenstatus im Tennis keine Sorgen machen muss, sollte sicher sein. Dennoch stellen sie sich, jene Fragen: Wie sehr hätte ein gesunder Juan Martin del Potro die 2010er-Jahre auf der Tour beeinflusst? Würden wir heute nicht von den »Big Four«, sondern den »Big Five« sprechen? Wie viele Grand-Slam-Turniere hätte er seinen Kollegen Federer, Nadal, Djokovic und Murray wohl abgeluchst? Freilich: Man kann nur darüber spekulieren. Man kann jedoch vor allem eines: fest die Daumen drücken, dass die linke Pfote des Juan Martin del Potro endlich hält.

Die aktualisierte und neu bearbeitete Auflage von "111 Gründe, Tennis zu lieben" (328 Seiten) enthält zehn Bonusgründe und ist im Buchhandel erhältlich, ebenso online, z.B. über Amazon, Thalia, Hugendubel oder den Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag

Preis: 9,99 Euro