In der Ruhe liegt die neue Kraft

Carina Witthöft
© Jürgen Hasenkopf

Carina Witthöft steht in Wimbledon wie im Vorjahr in der dritten Runde. Die 22-jährige Deutsche hat in den letzten Monaten viel im mentalen Bereich gearbeitet.

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Über Außenplatz 16 des All England Lawn Tennis Clubs hallten am Mittwochabend so fürchterliche Schreie, dass selbst abgebrühte Wimbledon-Fans die Augen verdrehten. Das Wettkampfgetöse der weißrussischen Qualifikantin Arina Sabalenka war ein wahres Inferno aus Brummen, Grunzen und Quieken, kein Wunder, dass man sich an eine Beschreibung der legendären Laut-Malerin Monica Seles erinnerte: "Sie schreit wie ein gemeuchelter Truthahn." Doch während Matchbeobachter wie der deutsche Teamarzt Dietrich Wolter die Nervenqual für die Ohren kaum noch aushalten konnten - "Das ist doch unerträglich" -, blieb Carina Witthöft auf der anderen Seite des Netzes ganz cool. In der Ruhe liegt schließlich die Kraft der jungen Norddeutschen - mehr denn je.

"Ich habe viel daran gearbeitet, ruhig zu bleiben"

Und zunehmend erfolgreicher: Nachdem die Hamburgerin schon zuletzt bei den French Open als einzige Deutsche überhaupt in die dritte Runde vorgeprescht war, rückte sie auch jetzt an der Church Road - dank des Drei-Satz-Erfolgs über Sabalenka - wieder unter die letzten 32 vor. "Ich habe viel daran gearbeitet, ruhig zu bleiben. Ganz egal, was passiert", sagte die 22-Jährige, die als größtes Talent der nächsten deutschen Generation im Damentennis gilt. Ihre frische Ausgeglichenheit im Wettkampfstress will Witthöft jetzt auch bei einer noch viel anspruchsvolleren Aufgabe nutzen - im kommenden Match gegen die Ukrainerin Elina Svitolina, eine der stärksten Spielerinnen der Saison 2017, die Nummer fünf der Weltrangliste. "Ich bin bereit für diese Herausforderung", so Witthöft, selbst auf Platz 65 der Charts eingestuft, "meine Reise hier muss noch nicht zu Ende sein."

Witthöft hat das mächtige Spiel, um ziemlich weit vorne im Welttennis mitmischen zu können. Doch bisher fehlten ihr die Konstanz und die Nervenkraft, um diese Potenziale auch ergiebig auszuschöpfen. "Es ist noch Luft nach oben da, keine Frage", sagt Witthöft selbst. Aber sie fühlt sich jetzt auf dem richtigen Weg, nach den heiklen, teils sehr komplizierten Start- und Lehrjahren auf der professionellen Tour. In wichtigen Matches und bei den Big Points profitiert sie von neuer Ausgeglichenheit, von mentaler Stärke, die auch auf Ratschläge ihrer Mutter Gaby zurückgeht: "Sie beschäftigt sich viel mit mentalem Coaching. Sie hat mir schon früher sehr stark geholfen."

Houdini-Akt in Runde eins

Witthöft füllt gerade auch die Lücke, die der Absturz der beiden etablierten Kräfte Andrea Petkovic und Sabine Lisicki gerissen hat. Petkovic hat noch kein wirksames Rezept gegen die sportliche Ergebniskrise gefunden, sie schied in Wimbledon genau wie die lange Zeit verletzte, gerade an einem Comeback bastelnde Lisicki in der ersten Runde aus. Witthöft, die wegen einiger freizügiger Bildchen in sozialen Netzwerken gern mal als belangloses Tennis-Sternchen missgedeutet wird, hat den Mumm und Biss, um nun eine tragende Rolle einzunehmen, auch im deutschen Fed-Cup-Team. "Sie ist keine, die Kompromisse in ihrer Karriere macht", sagt Bundestrainerin Barbara Rittner über Witthöft, "ihr Spiel kann aber sicher noch konsequenter und druckvoller werden."

Oft hatte Witthöft in der Vergangenheit Spiele verloren, in denen sie ihre überlegenen Fähigkeiten nicht gewinnbringend einzusetzen vermochte. Sie machte das Mögliche unmöglich. Nun dreht sie diese Story gerade um. Und zwar auch schon mal recht spektakulär. Ihre Aufholjagd gegen die erfahrene Kroatin Mirjana Lucic-Baroni in der ersten Wimbledon-Runde hatte fast schon sensationelle Dimensionen, sie war jedenfalls eins der bemerkenswerten Ereignisse der Wimbledon-Auftaktwoche. 0:5 lag Witthöft im Schlussakt hinten, dann folgte eine Houdini-Entfesselungsnummer, eine Aufholjagd, die mit dem 8:6-Triumph der Deutschen endete. Sie wirkte inmitten all der Turbulenzen wie ein Fels in der Brandung. "Solche Spiele hätte ich vor ein paar Monaten sicher verloren", sagt Witthöft, "der Kopf macht so viel im Tennis aus. Das ist unfassbar."

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