Zverevs Wahnsinn mit Methode und Moral

Alexander Zverev
© getty

Alexander Zverevs Fünf-Satz-Krimis erinnern so langsam an die Schlachten des deutschen Tennis-Großmeisters Boris Becker. Der bezeichnet die Leistungen des Hamburgers in Paris als Durchbruch und Meilenstein.

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Es sah ein wenig melodramatisch aus, der Kniefall von Alexander Zverev im roten Sand von Paris, der Griff ans Herz. Aber es war eben auch ganz großes Tennis, ganz großes Grand-Slam-Kino, schließlich ein mitreißender Entfesselungsakt, den der junge Deutsche da unterm Eiffelturm herauszauberte. Zverev schien schon wieder geschlagen, er lag schon wieder mit 1:2-Sätzen zurück. Doch auch der Russe Karen Khachanov wurde am Ende des nächsten French-Open-Dramas ein Opfer von Zverevs imponierender Moral und Leidenschaft, 4:6, 7:6, 2:6, 6:3 und 6:3 siegte der 21-jährige Hamburger, der damit das erste Major-Viertelfinale seiner immer strahlenderen Karriere erreichte.

"Ich bin einfach nur glücklich, wie ich mich da durchgekämpft habe. Aufgeben zählt nicht", sagte Zverev, der sich auf Court Suzanne Lenglen von den Fans nach der 209-Minuten-Schlacht feiern ließ. Nun wartet in der Runde der letzten Acht Zverevs österreichischer Kumpel Dominic Thiem zum prickelnden Duell. Vor gut drei Wochen hatte Zverev das Masters-Finale in Madrid souverän gegen Thiem gewonnen. Kaum Chancen auf einen Viertelfinalplatz wurden dem 22-jährigen Nürnberger Maximilian Marterer eingeräumt, er hatte am Montag die Herkules-Aufgabe gegen den zehnmaligen Roland Garros-Champion Rafael Nadal vor der Brust.

Sascha "Boris" Zverev

Drei Aufholjagden in Serie, drei vibrierende Nervenschlachten mit Happy-End, es wirkte wie eine beckereske Grand-Slam-Show, die der neue Superstar Zverev da nun seit einigen Tagen in Paris hinlegte. Wie einst beim großen Tennismeister war nie so ganz klar, wohin sich das Spiel mit und von Zverev hinbewegte. Aber auf der Zielgeraden war immer der Weltranglisten-Dritte der Mann, der die Regie des Geschehens eisern in der Hand hielt - mit extrem guten Nerven, übermächtiger Beherrschtheit und der Qualität, auch kleinere Rückschläge noch einmal wegzustecken. "Wer sein bestes Tennis spielt, wenn es um die Entscheidung geht, spielt das Tennis der Champions", sagte Becker selbst, der TV-Experte von Eurosport. Im fünften Satz habe Zverev wie in Trance agiert, so Becker, "er war in der Zone. Er spürte seine Müdigkeit nicht mehr, und er wollte diesen Sieg mit aller Gewalt, mit richtiger Gier."

Jedenfalls hätte Zverevs Auftritt, seine Statur, seine ganze Erscheinung kaum unterschiedlicher sein können zu denen der letzten Grand-Slam-Jahre. Auch 2017 war Zverev schon mit großen Ambitionen nach Paris gekommen, als Masters-Sieger von Rom - und dann in der ersten Runde am Spanier Fernando Verdasco gescheitert. Zverev wirkte noch unausgereift, man merkte ihm an, dass er mental noch nicht hundertprozentig für das anspruchsvolle Grand-Slam-Tennis bereit war. Nun aber erlebten Fans, Experten und Spielerkollegen einen Mann, der sich zwar immer noch Potenziale offen ließ, Raum für Steigerung, der aber vor allem nervliche Stabilität aufwies und die Big Points gewann. Erstklassiges Tennis können alle in der Ersten Liga des Welttennis, aber es geht eben darum, es zu zeigen, wenn es zählt. Und in Zverevs Fall: Dann, wenn man hinten liegt und verzweifelt um seinen Turnierverbleib kämpft.

Zverev: Fünf-Satz-Krimi, die Dritte

Zverev bewährte sich in der Rolle des unbeugsamen Marathon-Manns dabei auch gegen unterschiedlichste Gegner, gegen den listigen, fintenreichen Serben Dusan Lajovic, gegen den kratzbürstigen, giftigen Bosnier Damir Dzumhur. Und am Sonntag auch gegen Khachanov, in gewisser Kopie eine Kopie von Zverev selbst. Nur ist der Moskowiter eben einer, der oft in großen Matches den Kopf verliert, wie der etwas jüngere Zverev. 1:0 und 2:1 führte der Russe nach Sätzen, er hätte den körperlich sicher etwas wenig fitteren Zverev eigentlich auf den Boden zwingen müssen. Aber Zverev irritiert seine Gegner derzeit auch mit dieser unfassbaren Coolness, er lässt sich nichts von Problemen und Zweifeln anmerken, wenn er in der Klemme steckt. Stattdessen verschärft er seine Anstrengungen, spielt konzentrierter und wieder besser. Es ist das Tennis, was man braucht, um in die Schlagdistanz von Grand-Slam-Titeln zu kommen. "Was für ein Moment ist das in Saschas Karriere", befand Becker, auch der Herren-Abteilungsleiter des DTB, "das ist schon ein Durchbruch, ein Meilenstein."

Im fünften Satz gab es eine bezeichnende Szene, als Zverev nach schon drei Stunden Spielzeit das Auftaktbreak zum 1:0 gelang. Beim Seitenwechsel nach dem ersten Spiel nehmen sich die Spieler traditionell ein paar Momente Pause, obwohl es nicht erlaubt ist. Aber Zverev marschierte mit großen Schritten direkt zur anderen Grundlinie, er brauchte kein Wasser, er brauchte keine Unterbrechung. Er wollte nur noch den Sieg, möglichst schnell. Und den ließ er sich dann auch nicht mehr nehmen, er geriet nie mehr in Gefahr und in Bedrängnis. Und trotzdem, dies befand der Sieger dann doch: "Es ist schon ein Wahnsinn, was hier passiert."

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