Die wunderbaren Taktiken des Ivo Karlovic
von Florian Goosmann
zuletzt bearbeitet: 02.09.2016, 06:44 Uhr
Von Florian Goosmann aus New York City
Ivo Karlovic und ich kennen uns nun schon stolze 16 Jahre (oder besser gesagt: Ich kenne ihn, er kennt mich nicht). Und dennoch: Spiele des Aufschlaggiganten aus Zagreb habe ich zum größten Teil dieser 16 Jahre aus dem Blickwinkel seiner Gegner geschaut. Die große Frage war stets, wie sie Karlovics Aufschlag durchbrechen konnten, wann sich die Gelegenheit bot, dass der erste Aufschlag eine Auszeit nahm und der entscheidende zweite Aufschlag kam, den man zum möglichen Break oder Mini-Break verwandeln konnte.
Karlovics Tennis selbst... nun ja, habe ich mehr oder weniger abgetan wie die meisten: "Der kann ja nur aufschlagen" - so lautet schließlich das gemeine Urteil über alle, die als Aufschlag-Spezialisten gelten. Siehe auch unter Ivanisevic, Goran oder Isner, John. Ohne Aufschlag hätten es alle drei wohl nie auch nur annähernd unter die ersten 100 der Welt, geschweige denn unter die Top 10 oder Top 20 geschafft.
"Dr. Ivo" mit 37 Jahren so stark wie selten zuvor
In letzter Zeit aber bin ich zum Ivo-Anhänger mutiert. Denn der hat das ebenso gemeine wie falsche Urteil, starke Aufschläger hätten sonst keine Taktik, außer eben stark aufzuschlagen und im Tiebreak zuzuschlagen, gründlich widerlegt. Übrigens auch gegenüber sich selbst: Karlovic weiß mittlerweile, wie er spielen muss, um erfolgreich zu sein. Und was er lieber bleiben lassen sollte.
Karlovic, seit Karrierebeginn im Jahr 2000 bis 2007 nie unter den ersten 50 notiert, 2008 schließlich Top-20-Spieler und im Anschluss erst von einer Fußverletzung und dann von einer Hirnhautentzündung außer Gefecht gesetzt, spielt nach seinem Comeback seit zwei bis drei Jahren so effektiv, erfolgreich und konstant wie kaum zuvor. Vier seiner acht Turniersiege holte er seit 2013; alleine in diesem Sommer triumphierte er in Newport und Los Cabos und stand zudem in Washington im Finale. Mit mittlerweile 37 Jahren wohlgemerkt!
Tennis Marke Karlovic - so wird's gemacht
Wie Karlovic so erfolgreich sein kann, konnte man am Donnerstagabend in New York ergründen. Karlovic gewann hier seine Zweirundenpartie gegen Donald Young mit 6:4, 7:6 (4), 6:4 - indem er klassisches Karlovic-Tennis spielte. Einen Plan B, wie ihn die meisten Tennisspieler in der Tasche haben sollten, oder ein komplett anderes Programm für jeden anderen Gegner, braucht Karlovic im Regelfall sowieso kaum. Dennoch lebt Karlovic-Tennis von mehr Taktik, als es auf den ersten Blick aussieht:
Karlovic weiß, dass er vom Aufschlag lebt. Die Grundvoraussetzung also: kein Break kassieren. Ist ihm, obwohl Young sechs Breakbälle hatte, nicht passiert.
Karlovic weiß auch, dass er nicht David Ferrer ist. Weder von der Körpergröße (Ferrer ist 1,75 Meter groß und wieselflink), noch von der Spielanlage. Mit 2,11 Meter ist es nun mal schwierig, lange Ballwechsel, die heutzutage an der Tagesordnung sind, auf Dauer mitzugehen und nicht vorhandene Defensiv-Qualitäten auszupacken. Also lässt Karlovic das sein und verhindert es so gut es geht, überhaupt in die Defensive zu gelangen. (Ein Grund, warum er mit 37 Jahren überhaupt noch mitspielen kann. Karlovic plant sogar, bis in seine 40er zu spielen, was eine Sensation wäre.)
Karlovic versucht die Ballwechsel kurz zu halten. Hat er Aufschlag, ist das einfach: Der Kroate spielt fast immer Serve-and-Volley. Zwar kommt er nicht annähernd an die Schule des leichtfüßigen Stefan Edberg ran, dem großen Rivalen von Boris Becker in den 80ern, der nach dem Aufschlag-Absprung gefühlt erst innerhalb des T-Feldes wieder Bodenkontakt aufnahm. Allerdings braucht Karlovic die alte Formel, mit dem Angriffsball so weit wie möglich ans Netz aufzurücken, nicht. Denn Karlovics Aufschlag schlägt dermaßen ein, dass er so gut wie immer einen hohen Volley bekommt, auch wenn er den ersten Flugball stets hinter der T-Linie schlagen muss (im Unterschied zu Edberg, dessen Kunst darin bestand, schon beim ersten Volley am/im T-Feld zu stehen). Die wenigen Male, bei denen es Young gelungen war, Karlovic vor die Füße zu returnieren, führten zu umkämpften Aufschlagspielen - die Karlovic an diesem Tag jedoch allesamt mit guten Aufschlägen und gutem Stellungsspiel am Netz für sich entschied.
Stichwort Edberg: Während der Schwede auch nach einem Aufschlag, der letztlich im Aus landete, bereits im T-Feld-Bereich stand und zum zweiten Aufschlag zurücklaufen musste, macht Karlovic in solchen Fällen bereits zwei Schritte vor der Grundlinie kehrt. Für jeden Trainer ein Zeichen zu späten Aufrückens, für Karlovic schlicht kraftsparend. (Die Topspieler nutzen dieses mangelhafte Aufrücken jedoch in aller Regel aus.)
Hat Karlovic den ersten Volley platziert, steht er quasi mit dem Bauchnabel am Netz; also auf einer Position, die ideal für den Volley ist, den Gegner aber zu Lobs einlädt. Allerdings nicht, wenn da einer am Netz steht, der 2,11 Meter groß ist.
Beim Return hält Karlovic ebenfalls stur an einer Taktik fest. Kommt der Aufschlag des Gegners auf die Vorhand, geht "Dr. Ivo" auf den schnellen Punkt. Geht manchmal gut, manchmal nicht.
Den Rückhand-Return spielt Karlovic hingegen ausschließlich als gechippten Slice. Auf den ersten Aufschlag chippt er die Rückhand lediglich lang ins Feld und versucht im Anschluss, die Vorhand einzusetzen oder mit einem bissigeren Slice aufzurücken. Auf den zweiten Aufschlag rückt er hierbei, wenn möglich, direkt auf und setzt den Gegner unter Druck.
Karlovic geht insgesamt hohes Risiko ein beim Aufschlag des Gegners. Aber: Er kann es sich leisten, auch mal einige Returnspiele glatt zu verlieren - denn er kann sich auf seinen Aufschlag verlassen und im Zweifel im Tiebreak zuschlagen, wo der starke Aufschläger meist Vorteile hat. Dass Karlovic (und auch Kollege John Isner) insgesamt unter den schlechtesten Returnspielern der Tour rangieren, ist beiden klar und egal. Ihnen reicht pro Durchgang meist ein gutes Spiel beim Rückschlag, um den Satz zu gewinnen, denn ihre Aufschlagspiele halten sie meist sowieso.
Klingt einfach und berechnend? Mag sein. Dennoch hat auch "Dr. Ivo" einige Jahre gebraucht, "sein" Tennis für sich zu entdecken - und nicht zu versuchen, so zu spielen wie alle anderen, die nicht die Vorteile und Nachteile einer Körpergröße von 2,11 Metern besitzen. Karlovic sollte in diesem Bereich ein Vorbild für viele sein, speziell auch im Vereinsspielerbereich: Denn das Tennis zu spielen, das die Vorteile der eigenen Veranlagung und des eigenen Könnens begünstigt sowie die Nachteile bestmöglichst vertuscht, ist die halbe Miete für viele Siege.