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Tränen bei Olympia

Bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen gewannen die beiden Deutschen die Silbermedaille. Dabei war der Olympiasieg zum Greifen nah.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 12.08.2016, 14:00 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel

Nahezu jeder Sportler träumt davon, bei den Olympischen Spielen teilzunehmen. Und diejenigen, die es tatsächlich zum größten Sportereignis der Welt schaffen, dürfen weiter träumen - von einer Goldmedaille in ihrer Sportart. Doch der Traum von Olympia-Gold kann auch ganz schnell zum Alptraum werden. So geschehen bei Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler, die bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen schon ihre Hände an der sicher scheinenden Goldmedaille hatten und sich schließlich mit Silber zufrieden geben mussten. tennisnet.com blickt auf das denkwürdige Doppelfinale von Kiefer und Schüttler gegen die Chilenen Fernando Gonzalez und Nicolas Massu zurück.

Kiefer/Schüttler setzen deutsche Tradition fort

Der 21. August 2004 sollte der schönste Tag in den Karrieren von Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler werden. Die beiden Deutschen standen beim olympischen Tennisturnier in Athen im Finale um die Goldmedaille. Das Duo, das bis dato im Doppel keine großen Erfolge vorzuweisen hatte, ging ungesetzt in das Turnier und harmonierte bei Olympia prächtig miteinander. Im Achtelfinale nahmen Kiefer/Schüttler das australische Doppel mit dem Weltklasse-Doppelspieler Todd Woodbridge und Wayne Arthurs aus dem Turnier. Es folgten ein Sieg im Viertelfinale gegen die favorisierten Israelis Jonathan Erlich und Andy Ram sowie ein überraschend klarer Erfolg im Halbfinale gegen die Inder Mahesh Bhupathi und Leander Paes. "Das war ziemlich perfektes Tennis. Olympia spielt man höchstens dreimal im Leben, deshalb ist das etwas ganz Besonderes", sagte Schüttler nach dem 6:2, 6:3-Sieg und dem Einzug ins Finale.

Die beiden Deutschen hatten dadurch bereits eine Medaille sicher und setzten die deutsche Erfolgsgeschichte bei Olympia fort. Seit der Wiedereinführung von Tennis als olympische Sportart im Jahr 1988 gab es immer Edelmetall im Tennis. Nur noch die Frage nach der Farbe des Edelmetalls musste beantwortet werden, Gold oder Silber. Im Endspiel standen Kiefer/Schüttler den Chilenen Gonzalez und Massu gegenüber, die alles andere als Doppelspezialisten waren. Doch Gonzalez und Massu spielten in Athen das Turnier ihres Lebens, sowohl im Einzel als auch im Doppel. Im Viertelfinale schalteten die Chilenen die topgesetzten US-Amerikaner Bob Bryan und Mike Bryan aus. Gonzalez/Massu waren auf ihrer Mission, die erste Goldmedaille in der Geschichte ihres Heimatlandes zu gewinnen, kaum zu bremsen.

Doppelfinale startet erst um 22:55 Uhr

Und auch im Einzel lief das olympische Tennisturnier für die beiden Chilenen sensationell gut. Massu hatte den Einzug ins Endspiel um die Goldmedaille realisiert. Gonzalez spielte um die Bronzemedaille. Das Spiel um Bronze fand am gleichen Tag wie das Doppelfinale statt. Gonzalez sicherte sich dabei nach knapp 3:30 Stunden mit einem 6:4, 2:6, 16:14-Sieg gegen den US-Amerikaner Taylor Dent olympisches Edelmetall. Im Anschluss an das Damenfinale musste Gonzalez dann schon wieder auf den Platz. Erst um 22:55 Uhr Ortszeit begann schließlich das Endspiel zwischen Kiefer/Schüttler und Gonzalez/Massu. Aufgrund des kräftezehrenden Matches von Gonzalez Stunden zuvor und des bevorstehenden Endspiels von Massu am nächsten Tag müsste man meinen, dass es ein klarer Vorteil für die beiden Deutschen war.

Doch Kiefer/Schüttler erwischten einen katastrophalen Start, verloren elf der ersten zwölf Punkte und lagen in Windeseile mit 0:4 zurück. Dabei ließen sich die Deutschen auch von der ungewöhnlichen Doppeltaktik der Chilenen überrumpeln. Während Kiefer/Schüttler das klassische Doppel mit Serve-and-Volley spielten, blieben Gonzalez/Massu bei den Aufschlägen der Deutschen hinten an der Grundlinie stehen und prügelten mit voller Wucht auf die Bälle ein. Bei ihren eigenen Aufschlagspielen setzten die Chilenen ebenfalls auf die Taktik, dass der jeweilige Aufschläger von hinten agierte. Und das funktionierte auch blendend. Gonzalez/Massu sicherten sich den ersten Satz mit 6:2.

Kiefer übernimmt Chefrolle

Kiefer/Schüttler fanden überhaupt kein Mittel gegen die Taktik der Chilenen. Gonzalez/Massu gingen im zweiten Satz mit 4:2 in Führung und hatten einen Breakball zum 5:2. Im Athener Tennisstadion roch es nach einer klaren und schnellen Sache für die Chilenen. Doch es kam ganz anders. Der gewonnene Spielgewinn zum 3:4 brachte den Deutschen den Glauben zurück. Es folgte das Break zum 4:4. Spielerisch konnte das deutsche Duo allerdings immer noch nicht glänzen. Schüttler brachte sein Aufschlagspiel mit viel Mühe und nach Abwehr von zwei Breakchancen zum 5:4 durch. Der Knoten war endgültig geplatzt. Kiefer/Schüttler nahmen Gonzalez/Massu ein weiteres Mal den Aufschlag ab und schafften den Satzausgleich.

Nach der schwachen Anfangsphase hatten sich die beiden Deutschen immer besser auf die Taktik der Chilenen eingestellt. Im dritten Satz folgten die Spielgewinne fünf, sechs und sieben in Folge sowie eine schnelle 3:0-Führung. Kiefer/Schüttler waren am Netz nun kaum zu überwinden und hielten auch den krachenden Grundschlägen von Gonzalez/Massu stand. Angeführt von einem wie entfesselt wirkenden Kiefer, der die Chefrolle auf dem Platz übernahm, servierten die beiden Deutschen das Break sicher zum 6:3 und zur 2:1-Satzführung aus.

Vier Matchbälle am Stück - Schüttler versiebt Volley

Es war mittlerweile weit nach Mitternacht im nur noch spärlich gefüllten Tennisstadion in Athen. Die beiden Deutschen brauchten nur noch einen Satzgewinn, um in die Fußstapfen von Boris Becker und Michael Stich zu treten, die zwölf Jahre zuvor in Barcelona Olympiagold geholt hatten. Der vierte Satz war geprägt von starken Aufschlagspielen auf beiden Seiten. Sowohl Kiefer/Schüttler als auch Gonzalez/Massu gaben sich keine Blöße. Es ging in den Tiebreak, der zum Drama wurde. Angestachelt von einem hochemotionalen Kiefer, dem man in seiner Karriere selten so explosiv erlebt hatte, erspielte sich das deutsche Duo eine schnelle 4:0-Führung. Die aggressive Taktik, die Chilenen immer wieder mit Netzattacken unter Druck zu setzen, schien aufzugehen. Nach dem dritten Minibreak zum 6:2 hatten Kiefer/Schüttler vier Matchbälle am Stück.

Um 1:43 Uhr war der Kindheitstraum von Kiefer und Schüttler zum Greifen nah. Den ersten Matchball wehrte Gonzalez mit einem Vorhand-Winner auf die Linie ab. Nun war Kiefer mit zwei Aufschlägen an der Reihe und konnte zum Olympiagold servieren. Nach einer krachenden Vorhand von Massu landete Kiefers Volley im Aus. Auch der zweite Matchball war dahin. Beim dritten Matchball ließen sich die Deutschen durch die Mitte passieren, weil sie ihre Schläger wegzogen. Ein Matchball blieb den beiden noch für den Olympiasieg. Nach dem Aufschlag von Massu rückte Schüttler vor ans Netz und setze einen halbschweren Volley, den er wohl in jedem Training verwandelt hätte, nur haarscharf ins Aus. Es kam, was kommen musste. Gonzalez/Massu gewannen den Tiebreak mit 9:7 und schafften den Satzausgleich.

Achterbahn der Gefühle im fünften Satz

Das Drama schien seinen Lauf zu nehmen. Kiefer/Schüttler gaben gleich ihr erstes Aufschlagspiel im fünften Satz leichtfertig ab. Doch die Deutschen ergaben sich keineswegs ihrem Schicksal und schafften in einem intensiven Schlagabtausch das Rebreak zum 1:1. Nach einem weiteren Break zum 3:1 war das Olympiagold, das wenige Minuten zuvor nur noch einen Punkt entfernt war, wieder in greifbarer Nähe. Die spielerische Überlegenheit der Deutschen machten Gonzalez/Massu mit unbändigem Willen und dem Traum vor Augen, als erste Sportler eine Goldmedaille für Chile zu holen, wieder wett. Gonzalez/Massu schafften das Rebreak zum 3:2.

Vor allem bei Gonzalez, der nun mittlerweile über sieben Stunden an diesem Tag auf dem Platz stand, waren keine Ermüdungserscheinungen zu erkennen. Auf einmal trafen die beiden Chilenen mit träumerischer Sicherheit wieder die Bälle und Linien. Schüttler gab seinen Aufschlag zum 3:4 ab. Es war aber immer noch die Vorentscheidung in dieser Achterbahn der Gefühle. Die Deutschen realisierten ein weiteres Rebreak zum 4:4. Die wenigen noch ausharrenden Zuschauer machten das Stadion zu einem Hexenkessel. Jeder Punktgewinn wurde von den deutschen oder chilenischen Zuschauern frenetisch gefeiert. Das nötige Glück war jedoch nicht mehr allzu oft auf der Seite von Kiefer/Schüttler. Einige Male blieben die Volleys an der Netzkante hängen - so auch beim Spielball zum 5:4. Die Chilenen breakten durch eine krachende Vorhand von Massu ein drittes Mal, woraufhin Massu den Boden küsste.

Schüttlers Returnfehler beendet alle Träume

Nun war das historischeOlympiagold für Gonzalez/Massu zum Greifen nah. Die beiden Chilenen erspielten sich zwei Matchbälle, die Kiefer/Schüttler bravourös abwehren konnten. Eine weitere Wende lag in der Luft. Beim dritten Matchball der Chilenen landete der Return von Schüttler dann aber im Aus. Um 2:39 Uhr Athener Ortszeit war für Kiefer/Schüttler der Traum vom Olympiasieg ausgeträumt. Nach 3:44 Stunden jubelten Gonzalez/Massu über ihren 6:2, 4:6, 3:6 7:6 (7), 6:4-Erfolg und über die erste Goldmedaille in der Geschichte von Chile. Die frisch gebackenen Olympiasieger umarmten sich auf dem Boden und ließen sich mit ihrer Nationalflagge feiern. Kiefer und Schüttler wollten nur noch schnell weg und verließen mit hängenden Köpfen das Stadion.

Doch zu Ende war diese denkwürdige Nacht im Athener Tennisstadion noch nicht. Kurz darauf mussten die beiden Deutschen zur wohl spätesten Siegerehrung in der Olympia-Geschichte antreten. Mit bleichem Gesicht und leerem Blick ließen Kiefer und Schüttler die Siegerehrung über sich ergehen. Kiefer wirkte dabei mit dem Olivenkranz auf dem Haar wie die moderne Form eines leidenden Jesus Christus. Gonzalez und Massu sangen die chilenische Nationalhymne voller Inbrunst mit. Viel fehlte nicht und es wäre die deutsche Hymne gespielt worden. Aus dem Traum vom olympischen Gold wurde ein Alptraum für die beiden Deutschen.

Kiefer: "So eine Chance bekommt man nur einmal"

Kiefer ließ auf der wenig später stattfindenden Pressekonferenz seinen Gefühlen freien Lauf. "Das ist so brutal. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. So eine furchtbare Niederlage werde ich in meinem ganzen Leben nie wieder erleben", erklärte Kiefer und weinte bittere Tränen. Auch Jahre nach der verpassten Goldmedaille denkt Kiefer immer noch an die vier vergebenen Matchbälle. "Natürlich war es die schlimmste Niederlage und dennoch mein größter Erfolg. So scheinbar widersprüchlich kann der Sport sein", äußerte sich Kiefer in einem Interview mit tennisnet.com. Etwas gefasster nahm Schüttler die Niederlage auf. "Vor dem Turnier hätte ich mich sehr über Silber gefreut. Jetzt bin ich enttäuscht", sagte der Korbacher.

Viel Trost und Zuspruch erhielten die beiden tragischen Olympia-Helden von der deutschen Tennisprominenz. "Schade, aber so ist der Sport. In ein paar Tagen werden sie hoffentlich erkennen, dass auch Silber ein Riesenerfolg ist", sagte Michael Stich. "Die Jungs haben ihre Sache hervorragend gemacht, und wir haben wieder ein Weltklasse-Doppel. Ich selbst habe am meisten aus meinen Niederlagen gelernt. Wenn man sie überwindet, kommt man umso stärker zurück", äußerte sich Boris Becker. So richtig auf den Punkt brachte es Patrik Kühnen: "Das vergisst man sein ganzes Leben nicht." Auch Steffi Graf meldete sich zu Wort. "Schade, dass es nicht geklappt hat. Wir haben es ihnen so gewünscht. Andre und ich mögen Nicolas Kiefer sehr. Er hat ein großes Kämpferherz, viel Talent und ist uns sehr sympathisch", sagte die Ehefrau von Agassi.

Tränen trocknen, Erinnerung bleibt

Aber auch das Lob und die warmen Worte konnten nicht über das Drama von Athen hinwegtrösten. Während Kiefer und Schüttler eine schlaflose Nacht hinter sich hatten, stand Chiles Olympia-Held Massu wenige Stunden später schon wieder auf dem Platz - im Finale um die Goldmedaille im Einzel. Und Massu sicherte sich dank einer weiteren Energieleistung mit einem Fünfsatzsieg gegen den US-Amerikaner Mardy Fish innerhalb von nicht einmal 24 Stunden seinen zweiten Olympiasieg. Der Chilene wurde in seinem Land dadurch endgültig unsterblich.

Kiefer und Schüttler begriffen erst im Laufe der Jahre, welche herausragende Leistung der Gewinn der Silbermedaille war. "Heute weiß ich, wie außergewöhnlich dieser Erfolg war, aber nach dem Match denkt man mehr über die nicht gemachte Goldmedaille nach. Wir waren sehr traurig und enttäuscht und haben an die Chancen gedacht, die wir hatten. Aber jetzt hat die Medaille bei mir wie bei Nico einen ganz besonderen Platz und ich weiß, wie schwer es ist, die zu erringen", sagte Schüttler vier Jahre später vor Beginn der Olympischen Spielen in Peking im Gespräch mit "spox.com". In Peking unternahm das deutsche Erfolgsduo einen weiteren Anlauf auf die Goldmedaille. Doch Kiefer/Schüttler schieden bereits in der ersten Runde aus. Die Tränen nach dem Drama von Athen waren längst vertrocknet. Die Erinnerung an das verpasste Olympia-Gold wird aber wohl nie verblassen.

von Christian Albrecht Barschel

Freitag
12.08.2016, 14:00 Uhr