Die Wundertüte unter den ATP-Turnieren

Beim ATP-Turnier in Hamburg scheinen andere Gesetze zu gelten. Ein Blick in die Turnierhistorie.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 13.07.2016, 19:13 Uhr

HAMBURG,GERMANY,02.AUG.15 - TENNIS - ATP World Tour, bet-at-home Open, final. Image shows the center court. Photo: GEPA pictures/ Witters/ Frank Peters - ATTENTION - COPYRIGHT FOR AUSTRIAN CLIENTS ONLY

Von Christian Albrecht Barschel aus Hamburg

Wenn man Spieler und Tennisfans danach fragen würde, welches das prestigeträchtigste Tennisturnier der Welt sei, dann werden sicherlich fast alle antworten: Wimbledon. Der Rasen-Klassiker an der Londoner Church Road besitzt eben einen ganz einzigartigen Charme. Schaut man sich die Siegerliste der Herren in Wimbledon an, dann stellt man fest, dass hier größtenteils die ganz großen Superstars des Tennissports triumphiert haben. Seit 2003 haben in Wimbledon nur die "Big Four" gewonnen: Roger Federer (siebenmal), Novak Djokovic (dreimal) sowie Rafael Nadal und Andy Murray (jeweils zweimal). Es gibt aber auch Turniere, deren Verlauf und Ausgang kaum vorherzusagen sind. Würde man unter den ATP-Turnieren den Titel "Wundertüte" vergeben, dann wäre sicherlich das Turnier am Hamburger Rothenbaum der aussichtsreichste Kandidat.

Wenn alles schiefläuft...

In der Hansestadt läuft nämlich ganz selten etwas nach Plan oder nach bestimmten Wünschen. Es kommt fast immer anders, als man es erwartet - passend zum unberechenbaren Hamburger Wetter. Auch in diesem Jahr verläuft das traditionsreiche Sandplatzturnier völlig gegen die Vorstellungen. Das begann bereits im Vorfeld des Turniers, als die vorläufige Meldeliste veröffentlicht wurde. Diese wies sechs Wochen vor Turnierbeginn nur drei Top-20-Spieler aus - für ein Turnier der 500er-Kategorie etwas mau. Hinzu kam der Umstand, dass in der gleichen Woche auch die Davis-Cup-Viertelfinals sowie weitere Partien der unteren Zonen ausgetragen werden. Eine Situation, die so noch nie dagewesen und dem erweiterten Kalender mit dem olympischen Tennisturnier geschuldet war. Hamburg muss nun darunter leiden, denn viele Spieler hatten nur provisorisch für das Turnier am Rothenbaum gemeldet. So sagten zehn gemeldete Spieler, darunter die ehemaligen Sieger Fabio Fognini und Juan Monaco, für das Turnier ab, weil sie für den Davis Cup nominiert wurden.

Neben den Deutschen Philipp Kohlschreiber und Alexander Zverev sollte Dominic Thiem, der mit dem Halbfinal-Auftritt bei den French Open in die Top Ten vorstieß, das große Zugpferd in Hamburg sein. Doch der 22-jährige Österreicher musste seine Teilnahme ebenso krankheitsbedingt absagen wie der Südafrikaner Kevin Anderson. Nach der Absage von Thiem gab es die große Hoffnung, dass es ein deutsches Finale zwischen Kohlschreiber und Zverev um den ersten deutschen Titelträger seit 1993, als der heutige Turnierdirektor Michael Stich triumphiert hatte, geben könnte. Doch auch dieser Wunsch platzte ganz schnell wie eine Seifenblase, nachdem Zverev nach einem müden Auftritt bereits in der ersten Runde ausschied. Stattdessen schrieb ein anderer Deutscher Schlagzeilen: Der 17-jährige Louis Weßels kam mit einer kurzfristigen Wildcard zu seiner ATP-Premiere und spielte sensationell auf - auch dank YouTube.

Roberto Carretero, die größte Eintagsfliege im Tennis

Es zieht sich durch die knapp 125-jährige Turniergeschichte (1892 wurde das Sandplatzturnier erstmals ausgetragen), dass Hamburg ein Turnier der Überraschungen, Sensationen oder gar der großen Wunder ist. Zwar gewannen am Rothenbaum auch Tennislegenden wie Rod Laver, Roy Emerson, Guillermo Vilas, Ivan Lendl, Stefan Edberg, Roger Federer und Rafael Nadal, aber in den letzten 30 Jahren siegten oft Spieler, von denen man es nie und nimmer erwarten konnte. Und Hamburg war bis zum Jahr 2008 immerhin ein Turnier, wo meist die gesamte Weltelite aufgeschlagen hat. Am skurrilsten und beeindruckendsten ist sicherlich die Geschichte von Roberto Carretero. Ja, wer ist Roberto Carretero überhaupt?

Das fragen sich sicherlich die meisten Zuschauer, wenn sie auf der Anlage am Rothenbaum an der Wand mit den Portraitfotos der Sieger vorbeilaufen. Die gleiche Frage haben sich die Zuschauer wohl auch 1996 zu Turnierbeginn gestellt. Denn Carretero war ein unbeschriebenes Blatt. Der Spanier tauchte wie Phönix aus der Asche auf. Als Qualifikant mit Platz 143 im ATP-Ranking erreichte er das Hauptfeld und setzte dort seinen Siegeszug fort. Im Halbfinale schlug er Yevgeny Kafelnikov. Im Finale vernaschte er Landsmann Alex Corretja, sodass Carretero der erste Qualifikant wurde, der ein Masters-Turnier gewinnen konnte. Was dann folgte, war ein Absturz, der seinesgleichen sucht. Bei den folgenden French Open schied Carretero in der ersten Runde aus. Er dauerte einige Zeit, bis der Spanier endlich mal wieder ein Spiel auf der Tour gewinnen konnte. Nach seinem Coup in Hamburg erreichte Carretero mit Position 58 seine höchste Platzierung. Ein Jahr später war er nur noch die Nummer 334. Carretero ist wohl die größte Eintagsfliege, die es im Tennis gegeben hat.

"Wunder gibt es immer wieder"

Weitere Beispiele gefällig? Im Jahr 2001 gewann ebenfalls sensationell ein Qualifikant, nämlich Albert Portas. Der Spanier schlug im Finale seinen klar favorisierten Landsmann Juan Carlos Ferrero in fünf Sätzen. Es blieb der einzige ATP-Turniersieg für Portas, der im Anschluss nicht nur in St. Pölten in der ersten Runde kläglich ausschied, sondern auch bei den French Open gegen den nicht als Sandliebhaber bekannten Greg Rusedski. Im Jahr 2006, in dem Roger Federer und Rafael Nadal wegen des epischen Rom-Finales erschöpft absagen mussten und dadurch die Tenniswelt veränderten, kam es zum Überraschungsfinale zwischen Tommy Robredo und Radek Stepanek, wo der Spanier seinen größten Titel feierte. Apropos größter Titel: Der Kasache Andrey Golubev (im Jahr 2010) und der Argentinier Leonardo Mayer (im Jahr 2014) gewannen in Hamburg ihr erstes ATP-Turnier - für beide blieb es bis heute die größte Sternstunde. Die Ergebnislisten am Rothenbaum sind voll mit überraschenden Siegen, Titelträgern und Finalisten - wie zum Beispiel die Argentinier Mariano Zabaleta, Agustin Calleri und Federico Delbonis, der 2013 im Halbfinale gegen Roger Federer gewinnen konnte.

Aber auch aus deutscher Sicht gab es in Hamburg in der jüngeren Vergangenheit die eine oder andere überraschende Schlagzeile: der sensationelle Lauf des 19-jährigen Tommy Haas im Jahr 1997 bis ins Halbfinale sowie 15 Jahre später der ebenfalls sehr überraschende Finaleinzug, oder vor zwei Jahren, als Alexander Zverev im Alter von 17 Jahren die Tenniswelt mit dem Einzug ins Halbfinale verblüffte. Und welcher Tennisfan erinnert sich nicht gerne zurück an das deutsche Halbfinale im Jahr 1992 zwischen Boris Becker und Michael Stich mit dem berühmten Kniefall Beckers? Das Motto in Hamburg: Alles ist möglich am Rothenbaum. Und genau das macht den Tennissport auch so attraktiv. "Wunder gibt es immer wieder" sang Katja Ebstein in ihrem bekanntesten Song. Wer Tenniswunder sucht, wird am Hamburger Rothenbaum fündig. Vielleicht auch in diesem Jahr.

von Christian Albrecht Barschel

Mittwoch
13.07.2016, 19:13 Uhr