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Die Offseason der Seattle Seahawks: Viel Masse - aber keine Klasse?

Von Jan Dafeld
Russell Wilson und die Seattle Seahawks zogen im Vorjahr in die Playoffs ein.
© imago images

Die Seattle Seahawks gingen mit viel Cap Space und mehreren klaren Baustellen in die Offseason. Seitdem sind zahlreiche neue Spieler zu der Franchise gestoßen - doch wirklich besser scheint das Team nicht geworden zu sein. Die Seahawks laufen Gefahr, die besten Jahre ihres Superstar-Quarterbacks zu verschwenden.

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Hinter den Seattle Seahawks liegt eine sonderbare Saison. Trotz anhaltender Kritik an der veraltet anmutenden Coaching-Philosophie, der auf das Running Game ausgerichteten Offense und der fast ausschließlich in der Base-Formation spielenden Defense eilte das Team zwischenzeitlich von Sieg zu Sieg.

Anfang Dezember hatte Seattle fünf Spiele in Serie gewonnen, mit zehn Siegen bei nur zwei Niederlagen zählte die Franchise zu den besten der Liga. Letztendlich zogen die Seahawks - trotz drei Niederlage in den letzten vier Regular-Season-Spielen - souverän in die Playoffs ein - zum siebten Mal in den vergangenen acht Jahren, kaum ein Team war über diesen Zeitraum erfolgreicher.

Tatsächlich war die vergangene Spielzeit gemessen an Siegen in der Regular Season sogar die erfolgreichste seit fünf Jahren.

Das führt zu einer potenziell schwerwiegenden Frage: Gibt der Erfolg Pete Carroll und Co. Recht? Sind die Seahawks ihren Kritikern gar einen Schritt voraus?

Seattle Seahawks: Russell Wilson als großes Plus

Nicht unbedingt. 50 Regular-Season-Siege sowie drei Einzüge in die NFC Divisional Round über die vergangenen fünf Saisons lesen sich zwar hervorragend; in Anbetracht der Tatsache, dass die Seahawks über diesen Zeitraum über einen der drei besten Quarterbacks der Liga verfügten, wirken diese Erfolge allerdings schon nicht mehr ganz so beeindruckend.

Noch hat Russell Wilson keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass seine Leistungen in den kommenden Jahren schwächer werden sollten, doch der Star-Quarterback wird in diesem Jahr immerhin schon 32. Dass Wilson ähnlich lange auf einem so hohen Niveau spielen können wird wie Tom Brady oder Drew Brees, ist keineswegs garantiert.

Die Seahawks müssen also jedes Jahr, in dem sie auf der wichtigsten Position im Football mit einem der besten Spieler des Planeten besetzt sind, ausnutzen. Drei weitere Jahre mit einem zweiten Platz in der Division sowie einem Sieg in der Wild Card Round dürften weder Wilson noch seiner Teamführung genügen.

Seattle Seahawks: 50 Millionen Cap Space in der Offseason

Doch die (nahe) Zukunft sieht weniger rosig aus als man angesichts des relativ erfolgreichen Vorjahres meinen könnte.

Trotz elf Siegen bei nur fünf Niederlagen erzielten die Seahawks in der gesamten Saison nur sieben Punkte mehr als sie kassierten. Seattle gewann 2019 ganze zehn Spiele mit acht oder weniger Punkten Vorsprung. In so genannten Coin-Flip-Games, in denen erfahrungsgemäß besonders der Faktor Glück über Sieg und Niederlage entscheidet, fuhr das Team fünf Siege und nur eine Niederlage ein.

Zudem kamen die Seahawks weitestgehend ohne schwere Verletzungen ihrer Leistungsträger durch die Saison. Laut Football Outsiders hatte in der vergangenen Spielzeit kaum ein Team mehr Verletzungsglück. All das sind Faktoren, die sich kaum beeinflussen lassen und ein zweites Jahr in Serie dementsprechend kaum zu wiederholen sind.

Die Seahawks sollten daher darum bemüht sein, in der kommenden Spielzeit ein verändertes, verbessertes Team auf den Rasen zu schicken. Angesichts von rund 50 Millionen Dollar an Cap Space schien dies in der diesjährigen Offseason kein hoffnungsloses Unterfangen zu sein.

Nach der Free Agency und dem Draft muss allerdings die Frage erlaubt sein, ob Seattle seine Ressourcen wirklich optimal genutzt hat.

Seattle Seahawks: Fragwürdige Investitionen in die O-Line

Bereits seit Jahren zählt die Offensive Line der Seahawks zu den schwächeren der Liga. Mit Germain Ifedi und George Fant wurden zudem Seattles Right Tackle sowie der Swing Tackle des Teams beide Free Agents. Und: Es lässt sich nicht sagen, dass General Manager John Schneider diese Positionsgruppe ignoriert hätte.

Mit B.J. Finney (Free Agent), Cedric Ogbuehi (Free Agent), Brandon Shell (Free Agent), Mike Iupati (Re-Signing) sowie Damien Lewis (Draft, 3. Runde) holte das Team gleich fünf Spieler, die 2020 für einen der Starterposten in Frage kommen. Mit Finney, der in Pittsburgh nie mehr als 350 Snaps in einer Saison spielen durfte, dabei allerdings gute Ansätze als Pass-Blocker zeigte, als möglicher Ausnahme scheint das Niveau der Neuzugänge in diesem Jahr allerdings überschaubar.

Shell startete für die Jets zwar als Right Tackle, präsentierte sich dabei allerdings allenfalls als unterdurchschnittlicher Starter. Ogbuehi ist seine NFL-Tauglichkeit seit seiner Auswahl in der ersten Draft-Runde 2015 praktisch vollständig schuldig geblieben.

Wieso die Seahawks rund 10 Millionen Dollar in Spieler für die O-Line-Tiefe investierten, statt mit diesem Geld einen Pass-Blocker wie Bryan Bulaga zu ködern und Wilson so zum ersten Mal in seiner Karriere ein gutes Tackle-Duo an die Seite zu stellen, mag einem als Außenstehender nicht wirklich einleuchten. Auch Rick Wagner, der in Detroit zwar eine durchwachsene Vorsaison spielte, davor aber über Jahre zu den besseren Pass-Blockern der NFL zählte, wäre für den gleichen Preis wie Shell zu haben gewesen.

Die Free-Agency-Verpflichtungen der Seattle Seahawks

SpielerPositionEx-TeamVertrag
Greg OlsenTEPanthers1 Jahr, 7 Mio.
Bruce IrvinDEPanthers1 Jahr, 5,5 Mio.
Brandon ShellOTJets2 Jahre, 9 Mio.
B.J. FinneyCSteelers2 Jahre, 8 Mio.
Benson MayowaDERaiders1 Jahr, 3,05 Mio.
Cedric OgbuehiOTJaguars1 Jahr, 2,3 Mio.
Philipp DorsettWRPatriots1 Jahr, 1,05 Mio.
Linden StephensCBDolphins1 Jahr, 0,54 Mio.

Seattle Seahawks: Pass-Rush bleibt eine große Baustelle

Auf anderen Positionen bot sich ein durchaus ähnliches Bild: Während die talentierten, zuletzt aber verletzungsgeplagten Delanie Walker und Jordan Reed nach wie vor ein Team suchen und Eric Ebron für nur sechs Millionen Dollar pro Jahr in Pittsburgh unterschrieb, statteten die Seahawks den 35-jährigen Greg Olsen, dessen letzte wirklich starke Saison mittlerweile mehr als drei Jahre zurückliegt, mit einem Vertrag über knapp sieben Millionen Dollar für ein Jahr aus.

In der Defensive Line hielt das Team Jarran Reed trotz einer Sechs-Spiele-Sperre im Vorjahr für mehr als 10 Millionen Dollar pro Jahr und verpflichtete die erfahrenen Pass-Rusher Bruce Irvin und Benson Mayowa für 5,5 sowie 3,05 Millionen Dollar. Solide Deals, ja, der bereits im Vorjahr arg zahnlose Pass-Rush dürfte nach dem (voraussichtlichen) Abgang von Jadeveon Clowney allerdings noch schwächer geworden sein.

Mit Clowney, Everson Griffen, Cameron Wake, Markus Golden und Vinny Curry sind einige gute Pass-Rusher noch auf dem Markt, Stand heute müssten die Seahawks allerdings geradezu gezwungenermaßen auf eine Breakout-Saison eines ihrer jungen Pass-Rusher L.J. Collier, der Vorjahres-Erstrundenpick sah als Rookie kaum das Feld, und Darrell Taylor hoffen.

Seattle Seahawks: Keine klare Verbesserung in der Offseason

Dabei war Seattles Vorgehen in der Offseason im Gesamtbild keineswegs eine Katastrophe. Dafür dass Quinton Dunbar, der für wenig Gegenwert aus Washington geholt wurde, 2020 möglicherweise in keinem Spiel auf dem Platz stehen können wird, können die Team-Verantwortlichen nichts.

Zudem ist es lobenswert, dass die Seahawks mit ihrem vielen Cap Space keine Panikkäufe tätigten. Fragwürdige, langfristige Signings wie die von Austin Hooper (Browns), Halapoulivaati Vaitai (Lions) oder Andrus Peat (Saints) blieben aus. Oft ist die beste Strategie in der Free Agency tatsächlich, eben gerade nicht bei den teuren und begehrten Spielern zuzuschlagen.

Doch hat das Team über die vergangenen Monate an Qualität gewonnen? Kann Shell besser als Ifedi sein? Vielleicht. Ist Olsen ein Upgrade in der Tight-End-Gruppe? Möglich. Bringen Irvin und Mayowa mehr Tiefe im Pass-Rush? Durchaus denkbar.

Keiner dieser Moves verfügt allerdings wirklich über das Potenzial, um die Seahawks 2020 merklich zu verbessern. Die Schwachstellen des Teams scheinen die gleichen wie schon im Vorjahr zu sein, in Bereichen wie dem Pass-Rush hat sich sich die Situation sogar noch verschlechtert.

Seattle Seahawks: Was ist der Plan für die Zukunft?

Was man in Seattle derzeit vergeblich sucht, ist eine klare Vision für die Zukunft, ein Plan, um einmal mehr mit Wilson anzugreifen.

Während die Ravens ihre Defensive Line mit Calais Campbell und Derek Wolfe aufrüsteten, die Eagles ihrer Offense deutlich mehr Speed einimpften und die Saints ihr ohnehin bereits sehr gut besetztes Team mit Emmanuel Sanders und Malcolm Jenkins weiter verstärkten, bleiben ähnliche Bemühungen in Seattle bislang weitgehend aus.

Mit Russell Wilson als Quarterback dürfte die Franchise auch 2020 wieder mehr Spiele gewinnen als verlieren, dafür ist die Klasse des besten Spielers des Teams einfach zu hoch. Zumal auch Stars wie Bobby Wagner und Tyler Lockett noch enorme Qualität mitbringen. Doch können die Seahawks besser als im Vorjahr sein und nochmal in die Riege der besten Teams der NFL vorstoßen? Aktuell spricht nicht allzu viel dafür.

Seattle verfügt über den Luxus, dank seines Quarterbacks Jahr für Jahr nahezu garantiert ein überdurchschnittliches NFL-Team stellen zu können. Doch auch die Klasse eines Russell Wilson hält nicht ewig. Die Seahawks täten gut daran, die verbleibenden Jahre nicht als Team im gehobenen Mittelmaß zu verschwenden.

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