NBA

Der Fluch des Uncle Drew

Man sieht es Klay Thompson im Hintergrund an - Kyrie Irving ist eher schwer zu stoppen
© getty

Kyrie Irving ist ein Spieler, der stets auf einem schmalen Grat wandelt. Mal frustriert er, mal begeistert er. Der Verlauf der bisherigen Finals zeigt jedoch, dass die Cavaliers gegen die Warriors nur dann eine Chance haben, wenn ihr Point Guard seinen inneren Uncle Drew aus dem Käfig lässt - wie in Spiel 5.

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Wie schnell sich die Wahrnehmung doch ändern kann. Kaum ein paar Tage war es her, dass Kyrie Irving für seinen Hero-Ball in der Kritik stand - und das auch berechtigt, schließlich hatten er und LeBron James am Ende von Spiel 4 alles auf die eigene Faust versucht und waren damit gescheitert. Nur drei seiner zehn Würfe im letzten Viertel traf Irving, der Ausgleich und damit (vermutlich) die Chance auf den Titel waren futsch.

Es spielte dabei keine Rolle, dass er sein Gegenüber Stephen Curry über vier Spiele lang in fast jeder statistischen Kategorie übertrumpft hatte, denn am Ende war seine größte Stärke gleichzeitig auch seine größte Schwäche gewesen: 39 Mal in den ersten vier Spielen hatte Irving abgedrückt, ohne das zuvor ein einziger Pass in der Possession gespielt wurde. Und dabei nur 14 Mal getroffen. Ein gewissenloser Egozocker?

Wie gesagt: Diese Wahrnehmung hat sich rapide geändert. Was den Cavs zuvor teilweise zum Verhängnis wurde, rettete ihnen in Spiel 5 - gepaart natürlich mit LeBrons All-Around-Brillanz - wortwörtlich den Hintern. Ihre Saison geht weiter, weil Irving prinzipiell genauso weiter spielte, seine wilden Würfe diesmal aber traf.

Lue: "Er muss sich treu bleiben"

"Ich kann meinen Spielstil nicht einfach ändern, nur weil ich einige Würfe nicht getroffen habe", erklärte Irving nach Spiel 5. "Ich muss aggressiv sein und meine Chancen suchen." Tyronn Lue pflichtete ihm bei und unterstrich abermals, wie wichtig es für Cleveland ist, dass der Point Guard zuallererst ein Scorer ist.

"Man darf ihm nicht seine Stärken nehmen", sagte Lue. "Er ist am besten, wenn er attackiert und dadurch entweder selbst punktet oder für andere kreiert. Er muss sich deswegen treu bleiben und darf nicht auf Außenstehende hören. Er weiß, was wir von ihm sehen wollen."

Die Cavs haben verstanden, was vielen Basketball-Puristen eher zuwider ist: Ihre beste und wohl einzige Chance, diese Serie noch irgendwie zu drehen, besteht darin, den Ball so viel wie möglich in die Hände ihrer besten Spieler zu legen und diese "machen zu lassen". Ball-Movement ist ohnehin für Hippies!

Von LeBron wird es ohnehin seit seiner Geburt (oder vielleicht zehn Tagen danach) erwartet, dass er ein Spiel an sich reißen und entscheiden kann - Spiel 5 hat gezeigt, dass er in dieser Hinsicht nicht der einzige Cavalier ist. Ob Cleveland nun zurückkommt oder nicht, Uncle Drew hat bewiesen, dass auch er ein absoluter "Big-Game Performer" sein kann.

Schwierigkeitsgrad in den Wolken

Viel mehr Performance in einem großen Spiel geht nämlich wirklich nicht. LeBron hatte schon nicht ganz Unrecht, als er staunend sagte, Kyries Spiel 5 sei "eine der besten Leistungen gewesen, die ich jemals miterlebt habe." Obwohl der Mann seit der Unabhängigkeitserklärung jedes Mal in den Finals stand und sich mit großen Leistungen durchaus auskennt.

Kyrie in diesem Modus ist jedoch einfach schwer zu toppen. Im wichtigsten Spiel seiner Karriere sah Irving wieder aus wie der Spieler, der San Antonio vergangene Saison 57 Punkte eingeschenkt hatte. Kein Wurf war zu absurd, kein Winkel zu schmal, kein Verteidiger zu groß (kein Mitspieler zu frei) - Irving mutierte gewissermaßen zu einer jüngeren und kleineren Version von Kobe Bryant.

"Wir haben es mit verschiedenen Verteidigern versucht, vor allem natürlich Klay und Steph. Dazu wurde einiges geswitcht. Aber Kyrie hatte einfach ein großartiges Spiel, da konnte man nicht allzu viel machen", erklärte Steve Kerr konsterniert. Kein Wunder: Kyrie hatte eine effektive Wurfquote von 80,4 Prozent - und nach der Formel von ESPN eine Wurfqualität, bei der ein "normaler" Spieler nur 45,5 Prozent getroffen hatte.

Ein Novum der NBA-Geschichte

Wenn jemand dermaßen heiß läuft, gibt es tatsächlich nicht viel, was das gegnerische Team tun kann. Vor allem dann, wenn der eigene menschliche "Cheat-Code" (Curry) selbst einen gebrauchten Abend erlebt. So wie der zweifache MVP von seinem Distanzwurf "lebt", ist Irving auf sein Arsenal an Floatern, Turnaround-Jumpern und Layups angewiesen, die einem kein Basketball-Coach auf der Welt beibringen könnte oder würde - dafür sind sie zu einzigartig und auch zu schwierig.

An den Abenden, in denen Kyrie diese Streetball-Würfe dermaßen sicher trifft, muss man nicht lange überlegen, warum LeBron im Jahr 2014 entschied, dass er statt Dwyane Wade, einem sicheren Hall-of-Famer, von nun an lieber einen zehn Jahre jüngeren Co-Star an seiner Seite haben wollte.

Selbst wenn diese Beziehung seither keineswegs einfach erschien und von Frust auf beiden Seiten geprägt war - Spiel 5 zeigte, welches Potenzial sie besitzt. Nicht von ungefähr gelang LeBron und Kyrie in dieser Partie mit ihren jeweiligen 40-Punkte-Spielen etwas, das in allen Jahrzehnten der NBA-Finals-Geschichte noch nie von zwei Teammates erreicht wurde.

LeBron: "Be special"!

"Dieser Junge ist etwas ganz Besonderes", bekundete LeBron nach Spiel 5, als er bestätigte, Kyrie schon vor Spiel 4 die Botschaft "be special" mit auf den Weg gegeben zu haben. James macht selten einen Hehl daraus, auf wen er zählt und auf wen nicht.

Insofern passte es nahezu perfekt, dass Kevin Love in Spiel 5 nur für das Vine in Erinnerung bleiben wird, bei dem LeBron ihm ein High-Five verweigert und ihn stattdessen anschreit, während Irving nach dem Spiel in den Himmel gelobt wurde. Love müsste wohl selbst dann um seine Zukunft fürchten, wenn die Cavs das Unschaffbare tatsächlich noch schaffen sollten.

Die Trade-Gerüchte gab es um Kyrie ja auch bereits, nach diesen Finals ist es aber schwer vorstellbar, dass "GM" LeBron die Partnerschaft mit seinem Point Guard tatsächlich beenden könnte - denn Offensiv-Talente von Irvings Art kann man in dieser Liga eben doch an einer Hand abzählen.

Der Fluch

Und das trotz allem Frustrations-Potenzial. Man darf nicht den Fehler machen, jetzt auch in Spiel 6 eine vergleichbare Leistung von Kyrie zu erwarten. Mindestens ebenso wahrscheinlich wäre eine ineffektive Leistung, an deren Ende die zweite Warriors-Meisterschaft in Serie steht und Kyrie kritisiert wird. So ist das bei "gewissenlosen Egozockern" - jeder liebt sie, solange die absurden Würfe fallen. Es ist eine "make or miss"-Liga, um es mit Doc Rivers zu sagen.

Kyrie hat das akzeptiert und lässt sich davon allem Anschein nach nicht mehr irre machen. "Was mich am meisten beeindruckt hat, war seine Ruhe", sagte LeBron nach Spiel 5. "Die ganzen 48 Minuten über hat eine unglaubliche Ruhe ausgestrahlt, als könnte ihn nichts aus der Bahn werfen." Das klang schon verdächtig nach Uncle Drew.

Die Finals in der Übersicht

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