NBA

The Butterfly Effect

Kyle Lowry wäre um ein Haar bei den New York Knicks gelandet
© getty

Kyle Lowry galt als Troublemaker. Als einer, der es sich bei jedem Team früher oder später verscherzt. Auch die Toronto Raptors wollten ihn während der letzten Saison noch wegschicken - ausgerechnet zum Gegner vom Sonntag (So., 21.30 Uhr im LIVE-STREAM FOR FREE). Mittlerweile werden sie umso glücklicher sein, den Point Guard gehalten zu haben.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Der Deal war schon so gut wie durch. Kyle Lowry sollte nach New York gehen, im Tausch für Raymond Felton, Metta World Peace und entweder Iman Shumpert, Tim Hardaway Jr. oder einen 2018er First-Round-Pick. Die Knicks sollten ihr dringend benötigtes Upgrade auf der Eins bekommen, die Raptors weiter Assets sammeln. Das eine Team plante für die Gegenwart, das andere für die Zukunft.

Im letzten Moment platzte der Deal jedoch. Auf höchster Ebene wurde ein Veto eingelegt. Wenn man den Informationen der "New York Daily News" Glauben schenkt, war es James Dolan höchstpersönlich, der den fertigen Deal verhinderte. Der Knicks-Besitzer hatte offenbar Angst vor einem Deja-Vu.

Denn als damals Carmelo Anthony ein Knick wurde, wurde der Deal auf Seiten der Denver Nuggets von einem gewissen Masai Ujiri eingefädelt - und gemeinhin galten diese als Gewinner des Trades, weil die New Yorker nahezu ihren kompletten jungen Kern an Spielern für Melo aufgeben mussten, obwohl dieser im Sommer darauf Free Agent gewesen wäre.

Nicht schon wieder!

Ebenjener Ujiri war nun bei den Raptors angestellt und nannte mittlerweile den vielleicht besten Ruf aller General Manager der NBA sein Eigen. Nicht zuletzt wegen des Melo-Trades. Zu riskant für Dolan. "Er wollte nicht wieder von Masai übers Ohr gehauen werden", hieß es im angesprochenen Artikel der "New York Daily News".

Stimmt jetzt ab! Hier geht es zum offiziellen All-Star-Voting

Lowry blieb also in Toronto, da bis zur Deadline auch kein anderer Trade zustande kam, der Ujiri gefallen hätte. Wenn man sich anschaut, wie sich die beiden involvierten Teams seit dem "Nicht-Trade" entwickelt haben, erscheint es nicht unrealistisch, dass Ujiri dem Besitzer der Knicks zu Weihnachten einen Präsentkorb schickt. Oder wenigstens eine Karte.

Schließlich hatte der Argwohn des Hobby-Musikers Dolan ungeahnte Konsequenzen - passend zum sogenannten "Butterfly Effect" (Schmetterlingseffekt), wonach eine triviale Kleinigkeit ungeahnte Konsequenzen mit sich bringen kann. Wäre Ujiri nicht aus Denver nach Toronto gewechselt, dann.... wer weiß?

Denn während die Knicks seither im Chaos versunken sind, im letzten Jahr die Postseason verpassten und in diesem Jahr bei einer katastrophalen 5-22-Bilanz stehen, verlief die Entwicklung der Raptors unverhofft genau andersrum. Toronto schloss die letzte Saison mit der besten Bilanz der Franchise-Geschichte ab, momentan sind die sogar das beste Team der Eastern Conference. Mittendrin: Lowry.

Denkzettel von Billups

Der Point Guard scheint seine Lektionen gelernt zu haben. Nachdem er sowohl in Memphis, als auch in Houston nach nicht allzu langer Zeit in Ungnade gefallen war und auch in Toronto schon wieder vor dem Abschied stand, begriff er den Nicht-Trade als vielleicht letzte Chance, seinen miesen Ruf abzulegen.

"Ich wollte nicht als Journeyman gelten, als einer, der Talent hat, daraus aber nichts machen kann", blickte Lowry vergangene Saison zurück. Vor allem bei den Rockets war seine Art nicht gut angekommen - Lowry galt als untrainierbar, als einer, der glaubte, alles besser zu wissen. Daher nahm ihn auch sein Mentor Chauncey Billups in die Pflicht.

"Ich habe ihm gesagt: 'Wenn du diese Gelegenheit verschleuderst, war es das für dich'", erzählte der Finals-MVP von 2004, "es war wie bei mir in Detroit früher. Er musste lernen, mit Kritik umzugehen. Er musste lernen, wie man führt. In dieser Liga ist die Wahrnehmung häufig wichtiger als die Realität. Wenn man erstmal einen Ruf hat, ist es extrem schwer, ihn wieder loszuwerden."

Zweifel trotz Career Year

Lowry nahm sich die Worte zu Herzen und legte vergangene Saison die mit Abstand beste seiner Karriere hin. Seine 17,9 Punkte und 7,4 Assists pro Spiel waren Karriere-Bestwerte und eines All-Stars absolut würdig. Dass ihn die Coaches nicht als Reservisten ins Spiel der Besten wählten, hatte dabei vermutlich auch mehr mit seinem Ruf zu tun als mit seiner Leistung.

Folge NBA.de bei Twitter - wie Dirk Nowitzki!

Trotz Lowrys überragender Auftritte und dem Erfolg der Raptors blieben zudem Zweifel bestehen. Der Grund: Contract Year. Nicht selten legt ein Spieler über ein Jahr starke Zahlen auf, sahnt ordentlich ab und schiebt dann eine ruhige Kugel (siehe: Dampier, Erick). Lowry hatte bekanntermaßen keinen guten Ruf - also hielt sich das Vertrauen in sein Career Year in Grenzen.

Das galt aber nicht für Ujiri. Einmal hätte er fast den Fehler gemacht, Lowry abzugeben. Diesmal war das keine Option für den General Manager. Lowry bekam einen neuen Vierjahresvertrag über 48 Millionen Dollar - und bisher zahlt sich das aus. Mittlerweile erscheint es vielmehr absurd, dass an der Entscheidung überhaupt gezweifelt wurde. Bei 12 Millionen im Jahr könnte man sogar von einem Schnäppchen sprechen.

"Bulldog of Bay Street"

Lowry hat nicht nur statistisch zugelegt - momentan legt er Karriere-Bestwerte bei Punkten, Assists und Quote aus dem Feld auf. Er ist auch zum unangefochtenen Leader geworden. "Jeder bei uns weiß, dass das hier Kyles Team ist. Er schmeißt jeden Abend die Show für uns", sagt Coach Dwane Casey.

Lowry bringt eine Mentalität mit, die selten ist in der NBA. Der Aufbau ist mit 1,83 m ziemlich klein, trotzdem reboundet kaum ein Spieler auf seiner Position besser. Er verteidigt wie ein Kettenhund und verausgabt sich in jedem Spiel, bei jedem Play. Seine Drives sind kraftvoll und gewaltig wie der Schwung einer Abrissbirne. Der Spitzname "The Bulldog of Bay Street" kommt nicht von ungefähr.

Diese Mentalität zeichnete ihn schon immer aus - bei seinen bisherigen Stationen wurde sie ihm aber zum Verhängnis, weil sie mit Unsicherheit kombiniert war. "Ich wolle mich beweisen. Ich hatte damals ständig Angst, in die D-League geschickt zu werden. Ich wollte kein Backup sein und habe verbissen alles dafür gegeben, um das zu verhindern. Das ist vielen sauer aufgestoßen", erinnert sich Lowry.

"Ich wollte den Druck"

In Toronto ist er - wenn auch unverhofft - in eine Position geraten, die ihm wie auf den Leib geschneidert ist. "Ich hätte zu Teams gehen können, wo ich die dritte oder vierte Option gewesen wäre. Aber ich wollte den Druck selbst haben. Ich wollte derjenige sein, der den Ball am Ende in den Händen hält und die Verantwortung in guten und schlechten Zeiten übernimmt", erklärt der 28-Jährige.

Die Raptors geben ihm diese Rolle gerne. Backcourt-Partner DeMar DeRozan mag der Topscorer sein, derjenige, der 2014 zum All-Star Game durfte. Der unbestrittene Chef ist jedoch Lowry. Und dass er auch als Scorer brillieren kann, zeigt Lowry spätestens seit der Verletzung von DeRozan. Ohne "The Chosen One" legt er 21,3 Punkte (plus 10 Assists) pro Spiel auf und hält die Raptors an der Spitze der Eastern Conference.

Einer ist darüber verständlicherweise ziemlich glücklich: Ujiri. "Wahnsinn, was er leistet. Er hat als Spieler, als Mensch Verantwortung übernommen. Alle haben gesagt, er wird fett werden und sich zurücklehnen, sobald man ihn bezahlt. Im Gegenteil. Es ist unglaublich. Kyle Lowry ist ein All-Star. Mir egal, was andere sagen - er ist ein All-Star."

Endlich Zuhause

Mittlerweile wird ihm da wohl kaum noch jemand widersprechen können. Einige Experten gehen sogar noch weiter; Sekou Smith von nba.com zählt ihn beispielweise zu den zehn Top-Kandidaten auf den MVP-Award.

Lowry wird das egal sein. Ganz unabhängig davon, ob er und die Raptors das extrem hohe Level der ersten Saisonwochen halten können, hat er sein Zuhause nach sieben Jahren in der Liga endlich gefunden.

"Viele Spieler machen ähnliches durch. Sie müssen sich selbst finden und dann noch in der richtigen Situation landen. Bei mir hat das zwar etwas länger gedauert, aber ich bin glücklich, dass ich jetzt in der richtigen Situation gelandet bin."

Treffender kann man es nicht ausdrücken. Man stelle sich vor, James Dolan hätte keine Vorgeschichte mit Masai Ujiri gehabt.

Kyle Lowry im Steckbrief