"Viele waren froh, mich loszuwerden"

Von Interview: Martin Gödderz
Für Jens Voigt geht der Blick nach dem Karriereende weg vom Radsport
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SPOX: Nicht nur für Sie lief es auf der letzten Tour noch einmal anständig, generell waren die deutschen Fahrer so gut wie noch nie. Haben die jüngeren Deutschen Ihren Rat gesucht?

Voigt: Sicher. Man quatscht oft auch einfach aus Interesse, beispielsweise mit John Degenkolb und Marcel Kittel. Gerade der Dege ist manchmal lustig drauf. Der kommt morgens an und fragt: "Voigte, müssen wir schon wieder auf dich achten oder haben wir mal einen ruhigen Tag?" Da sage ich natürlich: "Ich kann da nichts versprechen!" Dege verdreht dann immer die Augen und lacht. Unter den deutschen Kollegen kommen wir alle sehr gut miteinander aus. Wir waren bei der Tour dieses Jahr ja auch gar nicht so viele. Andre Greipel zum Beispiel, den alten Mecklenburger kenne ich schon gefühlte 100 Jahre.

SPOX: Wo wir gerade davon sprechen: Welcher deutsche Fahrer könnte denn in Ihre Fußstapfen als Ausreißerkönig treten?

Voigt: Schwierig. Simon Geschke macht das ganz gut. Aber als direkter Nachfolger? Keine Ahnung. Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt jemand machen möchte. Zehn Mal attackieren und neuneinhalb Mal eingeholt werden - ich glaube nicht, dass die Leute für diesen Job Schlange stehen.

SPOX: Endgültig vom Straßenradsport haben Sie sich schließlich in den USA auf der Pro Challenge verabschiedet. Wie zu erwarten war mit einem letzten Soloritt, der kurz vor Schluss wieder gestoppt wurde. Trotzdem: Ein würdiger Abschied?

Voigt: Ganz sicher! Es war die drittletzte Etappe und ich war noch einmal ganz alleine vorne bis kurz vor dem Ende. Die Chancen auf einen Sieg sind nie groß, das ist jedem klar. Aber ich war ganz nah dran und wurde erst 600 Meter vor dem Ziel eingeholt. Meine Betreuer und meine Mannschaft waren vor allen Dingen beeindruckt von den Fans. Die Leute an der Strecke haben so gehofft, dass ich es schaffe. Dann werde ich kurz vor dem Ziel eingeholt, es gibt einen anderen Sieger und alle stöhnen laut auf und rufen: "Ooooh!" Die wollten, dass ich gewinne. Das war schön.

SPOX: Was haben Sie selbst mitgenommen von diesem letzten Moment im Rampenlicht auf der Pro Challenge?

Voigt: Ich habe vor allem gemerkt, dass ich bei diesem Soloritt eben nicht stark genug war. Ich hätte einfach einen Tick schneller sein müssen. Den Tick hatte ich nicht mehr im Tank und deshalb hatte ich den Sieg nicht verdient. Das hat mir aber auch noch einmal Sympathien gebracht. Ich wollte nämlich auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass ich mich bequem in den Ruhestand hineinschleiche. Ich wollte bis zum letzten Tag auf dem Fahrrad operationsfähig sein, wollte immer noch ein Faktor sein, den man in den Mannschaftsbussen auf dem Plan haben muss.

SPOX: Ruhig hineingeschlichen haben Sie sich ohnehin nicht in den Ruhestand. Mit 43 Jahren stellten Sie im September noch einmal einen Stunden-Weltrekord auf. Wie kam es eigentlich zu der Idee?

Voigt: Die Idee kam mir Ende Mai, als die UCI diese Regeländerung bekanntgegeben hat. Ein Kollege meinte, dass er es in der Eddy Merckx Position probieren wolle. In dem Moment, als er sich aber doch dagegen entschied, habe ich direkt gesagt: "Aber ich will, ich kann das!" Ich habe sofort mit den Jungs geredet und meinte, das sei doch der Knaller, wenn wir das schaffen könnten. Wir werteten daraufhin ein paar Daten aus, rechneten mein Zeitfahren aus, guckten uns meine Position an und machten dann ohne großartig eine Welle zu schlagen einen Test auf der Radrennbahn in Roubaix. Das lief vielversprechend. Dann hieß es: "Okay, jetzt geht's los."

SPOX: Diese Idee führte dazu, dass sie vor ausverkaufter Halle zum Rekord fuhren und auf Ihrer letzten Karrierefahrt Standing Ovations von 1.600 Zuschauern erhielten. Gibt es einen besseren Abschluss?

Voigt: Wohl kaum, es war tatsächlich einfach nur großartig. Ich war aber auch froh, dass es endlich vorbei war. In diesen Rekord habe ich noch einmal alles reingeschmissen, was ich noch hatte - an Motivation, Training, Konzentration und Leiden. Ein sehr schöner Abschluss.

SPOX: Wie hat der geschundene Körper auf die letzte Fahrt der Karriere reagiert? Spüren Sie die schweren Beine noch immer?

Voigt: Mittlerweile nicht mehr, aber an dem Abend selbst konnte ich kaum noch gehen, geschweige denn Treppen laufen. Und auch drei Tage später taten der Po und die Oberschenkel noch immer weh.

SPOX: Es war kein Rekord für die Ewigkeit. Nur 42 Tage später war der 19 Jahre jüngere Matthias Brändle besser. Sind Sie traurig, dass es nicht einmal bis zum Jahresende gereicht hat?

Voigt: Bis Weihnachten hätte ich den Rekord ganz sicher gerne behalten, aber man muss auch ehrlich zu sich selbst sein. Ich bin 43 Jahre alt, das war wirklich eine sehr gute Leistung für mein Alter. Vor fünf oder vor zehn Jahren wäre ich auch sicher nochmal einen Kilometer schneller gefahren. Aber der Körper gibt nach, das ist das Gesetz der Natur. Von daher war mir klar, dass ich den Rekord nicht lange haben werde. Und es ist völlig normal, dass ein jüngerer Fahrer sagt: "Was der alte Voigt kann, kann ich schon zwei Mal." Ich wäre vor 20 Jahren genauso gewesen.

SPOX: Hatten Sie Kontakt zu Ihrem Nachfolger?

Voigt: Ja, Matthias Brändle schrieb mir eine Nachricht und meinte: "Jens, es tut mir ein bisschen leid, dass ich den Rekord geholt habe, aber meine Form war jetzt so gut. Und wenn Tony Martin oder Bradley Wiggins den Rekord erst einmal angehen, dann schaff ich das nicht mehr." So ist es nun mal und letztendlich war der Sinn des Rekordes, dass man da nicht nur eine Stunde Zeitfahren macht, sondern ein richtiges Happening veranstaltet mit den Zuschauern und einem Live-Stream in die ganze Welt. Das hat auch die anderen Teams und Sponsoren inspiriert, die sich sagen: "Hey, das ist eine ganze Stunde nur für uns alleine. Sowas wollen wir auch."

SPOX: Der Schlusspunkt der Karriere also gleichzeitig auch als Höhepunkt?

Voigt: Nein. Ich hatte persönlich sehr viele tolle Highlights in der Karriere, aber der Stundenrekord war ein toller Abschluss und auch das Highlight des Jahres für mich.

SPOX: Was nehmen Sie also mit aus diesem letzten Jahr?

Voigt: Das ganze Jahr war wie eine große Abschiedstour. Da war der Januar in Down Under, wo ich schon dachte: Das ist das letzte Mal, dass ich als Radfahrer in Australien am Start bin. So geht das dann immer weiter. Die Baskenlandrundfahrt als letztes Rennen in Spanien, die Tour de France als letztes Frankreichrennen und die Bayernrundfahrt als letzter Auftritt in Deutschland. Ich brauchte das für meinen Kopf. Radsport war all die Jahre mein Leben und es war viel wert, dass ich das Jahr über Zeit hatte, auf das Ende hinzuarbeiten.

SPOX: Klingt wie das Musterbeispiel eines schönen Abschieds...

Voigt: So ist es. Als Andenken für dieses letzte Jahr will mir mein Team Trek eines der Räder mit dem Weltrekord schenken. Da habe ich meiner Frau gleich gesagt, dass das Bild im Wohnzimmer abgehängt wird und das Rad als Andenken für 2014 einen Monat lang drankommt. Da hat sie nur gelacht und mir in die Rippen geboxt.

SPOX: Welche Vorsätze setzt sich denn der Ausreißerkönig im Ruhestand für 2015?

Voigt: Da halte ich es ganz einfach: Gesund bleiben, nicht zu dick werden und dass die Kinder mit der Schule beziehungsweise dem Studium gut klarkommen. Mehr brauche ich nicht.

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