Der Schwimmer von Auschwitz

Von Maximilian Schmeckel
Alfred Nakache wäre am 17. November 100 Jahre alt geworden
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"Alfred gab vielen Hoffnung"

Davon ahnte Nakache, inhaftiert im Auschwitz-Arbeitslager Monowitz, nichts, erst Monate nach dem Krieg hatte er die traurige Gewissheit, dass seine Familie tot war. Das Grauen überstand er wegen seiner guten physischen Verfassung und wegen seiner Freunde im Lager, zu denen unter anderem der tunesische Boxer Victor Perez, der französische Sportjournalist Noah Klieger, der US-amerikanische Filmausstatter Willy Holt und der italienische Schriftsteller Primo Levi gehörten.

"Jeder von uns konnte etwas, das uns von Nutzen war. So halfen wir uns gegenseitig. Alfred gab vielen von uns Hoffnung", erinnerte sich Holt später in seinen Memoiren. Vier Mitglieder des Quintetts überlebten Auschwitz, Perez wurde 1945 kurz vor Kriegsende erschossen.

Von den über 75.000 ins Konzentrationslager Auschwitz gesteckten französischen Juden überlebten nur 2500. Die anderen Deportierten starben durch Vergasung, Folter, Mord, Hunger, Erfrierungen. Insgesamt fanden weit über eine Millionen Menschen den Tod im Konzentrationslager Auschwitz.

Demütigung und Todesmarsch

Vom Tod durch Hände der Lager-Schergen wurden Nakache und zunächst Perez auch deshalb verschont, weil sie mit ihren sportlichen Fähigkeiten den NS-Männern zur Unterhaltung dienten. Perez musste mehrmals gegen Nazi-Boxer antreten, 1944 schlug er einen laut Holt "riesengroßen" SS-Mann K.o., obwohl er selbst völlig entkräftet war.

Nakache musste wie ein "dressiertes Tier" nach Münzen oder aus Blei gegossenen Figuren tauchen, während die Nazis vom Beckenrand mit ihren Gewehren auf ihn zielten, um ihn zu erschießen, sollte er versagen.

Kraft gaben ihm nur drei Dinge: seine Freunde, sein verantwortungsvoller Job im Lager-Lazarett, wo er Häftlingen Mut zusprach und geschmuggelte Brotscheiben verteilte und die heimlichen Ausflüge in die Wasserbecken des Lagers. Dann fühlte er sich für wenige Sekunden frei und blendete das Grauen aus, das über der Oberfläche auf ihn wartete.

Weil die Alliierten schnell vorrückten, "evakuierte" die SS die Konzentrationslager und schickte die völlig entkräfteten Häftlinge auf Todesmärsche zu weiteren Lagern. Im Januar 1945 sollte Auschwitz geräumt und die Inhaftierten nach Buchenwald geschickt werden. Zwischen 9000 und 15.000 Häftlingen starben während des Marschs. Sie wurden wie Perez erschossen, erschlagen, verhungerten, verdursteten oder starben an Erschöpfung. Ihre Leichen säumten den Weg bis ins 643 Kilometer entfernte KZ Buchenwald und dienten den Amerikanern als makaberer Wegweiser.

Von 85 auf 42 Kilogramm

Nakache überlebte den Wahnsinn und gehörte zu den internen Widerständlern, die aufgrund des nahenden US-Militärs offenen Widerstand wagten und am 11. April die verbliebenen SS-Wachleute überwältigten, als eine Vorgruppe der 6. US-Panzerdivision das Lager erreichte. Man konnte das Tor öffnen, zwei Tage später wurde ein US-amerikanischer Lager-Kommandant berufen. Zunächst blieb Nakache, um die vielen dem Tode nahen Häftlinge zu versorgen.

Viele der schrecklichen Bilder von unterernährten Menschen und Massengräbern stammen aus diesen Tagen in Buchenwald. Nakache, der als voll austrainierter Athlet 85 Kilogramm gewogen hatte, brachte zu diesem Zeitpunkt nur noch 42 Kilogramm auf die Waage.

Als er nach Toulouse zurückkehrte, hoffte er, dort auf seine Frau und seine Tochter zu treffen. Er hoffte, dass auch sie das KZ überlebt hatten, von der sofortigen Tötung von schwachen Frauen und kleinen Kindern ahnte er nichts. Er kam bei seinem Freund Jean Taris unter, der später von den erschütternden Tagen berichtete. "Alfred war ausgemergelt, er bestand nur noch aus Haut und Knochen und war ganz schwach". Trotz seiner Verfassung ging er monatelang jeden Tag zum Bahnhof, wo Listen von Überlebenden aushingen, um dort die Namen seiner Frau und Tochter zu finden.

Rettung durch das Schwimmen

Als er von ihrem Tod erfuhr, wollte er sterben, wie er später erzählte. Er starb nicht, sondern hatte nur einen Gedanken, der ihn jeden Tag aufstehen ließ: den an sein Comeback. Mit Taris und einigen Freunden arbeitete er hart, er kam langsam wieder an sein Normalgewicht heran und an manchen Tagen vergaß er für einige Momente, dass seine Frau und seine Tochter tot waren, und es fühlte sich fast so an wie vor dem KZ, als es nur das Wasser und ihn gab.

Nur acht Monate später gewann er drei Titel bei den französischen Meisterschaften, 1946 krönte er sich zum letzten Mal zum nationalen Champion und 1948 schrieb er in London Geschichte, als er als erster und einziger Olympionik, der in Auschwitz gefangen gehalten wurde, noch einmal an den Spielen teilnahm.

1950 heiratete er ein zweites Mal, auch wenn er Paule "nie verlassen würde". Er arbeitete in Toulouse als Schwimmtrainer und Sportlehrer, blieb Zeit seines Lebens politisch, da gerade er als Überlebender eine "politische Verantwortung" habe.

Tod im Wasser

Nachdem seine letzten in Algerien lebenden Verwandten vor Nationalisten zu ihm nach Toulouse geflohen waren und er eine Zeit lang mit seiner Frau in Reunion einen Schwimmklub betrieben hatte, ließ er sich schließlich in der Nähe von Sete an der Mittelmeerküste nieder. Dort erinnerte ihn einiges an seine Heimat, an die milden Brisen, an die Pappeln, an die Orangenbäume und an sein Becken mit dem weißen Stein, in dem er schwimmen gelernt und den Spitznamen "Fisch" erhalten hatte.

1983 starb er während des täglichen Schwimmens im Hafen von Cerbere an einem Herzinfarkt. Er starb bei der einzigen Tätigkeit, die das ihn Zeit seines Lebens begleitende Grauen in seinem Kopf tilgen lassen konnte und seinem von Erinnerungen gepeinigten Gemüt portionierte Freiheit schenkte.

Als die größte französische Presseagentur AFP eine Meldung zu seinem Tod herausgab, wurden seine Erfolge aufgelistet, seine Deportation wurde mit keinem Wort erwähnt - Frankreich wollte sich lieber an den Helden Nakache erinnern als an die eigenen Wunden, die die Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Vichy-Frankreich gerissen hatten.

Als hätte er es geahnt, veranlasste er vor seinem Tod wider das Vergessen die Inschrift seines Grabsteins. Auf schwarzem Marmor, umrahmt von vier terracottafarbenen Blumenkübeln, steht unter seinem eigenen Namen: "In Erinnerung an Paule Nakache und ihre Tochter Annie, Opfer der deutschen Barbarei."

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