Der Häuptling der Crazy Gang

Von Maximilian Schmeckel
Vinnie Jones beendete 1999 seine Profi-Karriere
© getty

Vinnie Jones war der Anführer der legendären Crazy Gang des FC Wimbledon. Er sah einst nach drei Sekunden Gelb, flog 13 Mal vom Platz und trat selbst die größten Haudegen rustikal um. "Let's fucking kill them", brüllte er den Gegnern entgegen und wurde zum meist gefürchteten Spieler der Liga. Später feierte er eine bemerkenswerte zweite Karriere als Kult-Schauspieler der Guy-Ritchie-Filme. Was bei seinem Image oft vergessen wird: auch Jones hatte immer etwas Menschliches.

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Steve Mc Mahon war in den Achtziger-Jahren eine imposante Erscheinung. Mit hellem und etwas lichtem Haupthaar, seiner breiten Stirn und seiner kantigen Nase fuhrwerkte er über die englischen Plätze. 1988 war er beim FC Liverpool eine feste Größe, seine Tacklings waren gefürchtet und ein Pressschlag mit ihm galt als sicherer Weg seine Bänder zu zermalmen.

Der 14. Mai 1988 war ein milder Frühlingstag, im Londoner Wembley Stadium stieg vor 98.203 Zuschauern das FA-Cup-Finale. Mc Mahon nahm nach nicht einmal zwei Spielminuten den Ball einige Meter hinter der Mittellinie an, gab den Ball auf die linke Seite und wurde gefällt.

Etwas Blaues hatte ihn mit der Wucht eines K.o.-Schlags von Mike Tyson getroffen. Mit gestreckten Beinen, ohne Chance auf den Ball. Der Schlächter mit dem Bürstenschnitt stand auf und trabte vom Tatort davon, als käme er gerade vom lockeren Aufgalopp im eigenen Garten. Sein Name: Vinnie Jones. Seines Zeichens größter Rüpel der Premier-League-Geschichte, Häuptling der mit Eisenstollen und Adrenalin bewaffneten Krieger der Crazy Gang des FC Wimbledon.

"Völlig wahnsinnig"

Jones hatte ein Zeichen gegen den gefürchteten Mc Mahon mit der krachenden Grätschen gesetzt, Wimbledon gewann das Endspiel mit 1:0 und feierte seinen ersten und bisher einzigen Titel im FA Cup. Jones' Aktion war eine von vielen die ihn zur Ikone machte.

Noch heute hauen die Kiebitze zwischen Newcastle und Portsmouth grölend auf den Tisch, heben ihre Gläser und stürzen das Bier zu Ehren der Legende dann in einem Zug hinunter, wenn der Name Vinnie Jones fällt.

Die Liste seiner Anekdoten ist länger als die von Gascoigne und Cantona zusammen. "Er muss völlig wahnsinnig sein", diagnostizierte einst ein von der Sun befragter Psychologe - und trifft es damit im Kern.

Die Fans liebten ihn oder hassten ihn. Und die Gegenspieler fürchteten ihn. Sein infernalisches Gebrüll vor dem Spiel, seine Attacken auf dem Rasen und seine Unberechenbarkeit.

Alkohol war früh die Lösung

Das Raubein wurde 1965 als Sohn walisischer Eltern im britischen Watford geboren. "Engländer? Ich bin verdammt noch Mal ein verfickter Waliser", raunzte er einmal einen Journalisten an, der seine Nationalität versehentlich nach England verpflanzt hatte.

Im Süden von England wuchs er in einer harten Gegend auf - und einer harten Zeit. Nationalismus war wegen des Nordirland-Konflikts ein durchaus präsentes Thema.

Als ihn ein Mitschüler "Waliser-Schwuchtel" nannte, schlug der schon in jungen Jahren cholerische Jones ihm acht Zähne aus. "Ich habe früh gelernt was es heißt, sich durchzusetzen", sagte Jones später. Die frühe Scheidung seiner Eltern ertränkte er im Alkohol: "Alkohol schien für alles die Lösung zu sein." Über die Station FC Wealdstone und den schwedischen Verein IFK Holmsund kam er 1986 zum FC Wimbledon.

Bassett und Hammam als eiserne Vereinsführung

Der Verein aus dem Südwesten Londons war gerade in die erste Liga aufgestiegen und Trainer Dave Bassett und Eigentümer Sam Hammam hatten eine Truppe von wüsten Gesellen beisammen, die als Crazy Gang Geschichte schreiben sollte. Bassett galt als großer Fan von geradlinigem Kick and Rush und in der Defensive baute er auf den Satz: "Wenn er vorbei geht, dann trittst du ihn nieder." Der harte Hund auf der Bank verschmolz mit Hammam, einem Bauunternehmer aus dem Libanon zu einer betonharten Vereinsführung. In der Halbzeit brüllte er seine Spieler zusammen und warf schon mal die Massagebank gegen die Wand.

Nach schlechten Spielen schickte er die Sündenböcke zur Strafe in die Oper. Jones selbst brachte er persönlich zu einer Ballett-Unterrichtsstunde, nachdem der völlig verkatert kein Bein auf den Rasen gebracht hatte. Legendär auch sein Prämien bei Siegen. Neben dicken Geldbündeln gab es auch immer wieder einen Kneipen-Bonus.

"Lasst sie frei saufen, bis es ihnen aus den Ohren wieder raus kommt", ließ er nach einem Sieg gegen Manchester United verlauten. "Wir müssen der British Bulldog Klub bleiben, das Sondereinsatzkommando", charakterisierte er die Gang perfekt. "Wir müssen uns mit schierer Kraft durchsetzen und die Einstellung haben, in so manchen Hintern treten zu müssen. Bevor wir absteigen, wird es eine Blutspur von hier bis Timbuktu geben."

"Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals!"

Von Beginn an war Jones der Anführer der Verrückten vom FC Wimbledon. Seine Ausstrahlung, seine Mentalität und sein Siegeswille pressten ihn in die Rolle des sportlichen Leaders, sein walisischer, derber Zungenschlag auch in die des verbalen Einschüchterers. Vor Spielen ließ Wimbledon seine Gegner im schlecht beleuchteten Gang warten, während der Ghettoblaster Putz von der Decke rieseln ließ. Die Musik verstummte und die Jungs kamen mit infernalischem Gebrüll aus der Kabine.

"Let's fucking kill them", schleuderte Jones den Kontrahenten entgegen - und er meinte es ernst, wenn er in den kurzen blauen Hosen und mit dem Geschmack des Vorabendschnaps' auf der Zunge den Gang betrat. Legendär auch sein 1986 in den Anfield-Katakomben getätigter Ausspruch zu Liverpools Ikone Kenny Dalglish: "Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals!" Zuvor hatte er das bedeutungsgeladene Schild "This is Anfield" angespuckt. Völlig wahnsinnig eben.

Bei allem Brüllen, allem Geifern, allem Treten und allem Wilden, das die "Dons" verkörperten - weit kommen würden sie in Englands Eliteliga nicht, auch wenn jedes Spiel mit ihnen einem Box-Kampf mit einem psychedelischen 140-Kilo-Derwisch glich. Da waren sich in England Klubs und Journaille gleichermaßen einig. Zu veraltet erschienen die langen Bälle, zu technisch limitiert die Akteure, zu sehr wie eine Elf von versoffenen Bergarbeitern kamen sie daher.

Am Ende der Saison wurde Wimbledon Achter. Nur mit Einschüchterungen und hartem Spiel hatte dieses "überraschende, hässliche, aber völlig verdiente" (Guardian) Ergebnis nicht zu tun. Im Gegenteil: Der oft auf einfachste Strategien herunter gebrochene Fußball der Crazy Gang, die nach einer Komikergruppe der Dreißiger Jahre benannt waren, hatte etwas überraschend Komplexes und taktisch Vielschichtiges an sich.

Flexible Taktik der Crazy Gang

Die vier Verteidiger arbeiteten mit strikten Mannorientierungen. Folglich rückten die Innenverteidiger wie Jones oder Terry Phelan oft weit heraus, um den Offensiven als Kettenhunde das Leben zur Hölle zu machen. Im Mittelfeld sorgte man mit vielen Rotationen und Dopplungen in der Abwehr mit unkonventionellen Methoden für Verwirrung.

So tauchte der wichtigste Offensivspieler John Fashanu immer wieder auf dem rechten Flügel auf, nur um im nächsten Moment geschwind wie ein Windhund in die Box vorzustoßen und einen der langen Bälle zu verwerten.

Neben dem Schlaks mit nigerianischen Wurzeln (zwei Länderspiele) waren auch Torwart David Beasant (zwei), Laurie Cunningham (6) und später bei Chelsea Youngster Dennis Wise (21) englische Nationalspieler. Hinzu kamen neben Jones, der neun Mal für Wales auflief, mit Pheland (Irland) und FA-Cup-Final-Torschütze Lawrie Sanchez (Nordirland) weitere Nationalspieler. Das zeigt, dass sie alle durchaus kicken konnten, die sich ihren Weg durch die Liga mit der Axt bahnenden Wimbledon-Spieler.

Jones gab der Liga etwas Düsteres

Jones blieb bis 1989 bei Wimbledon, holte die Plätze sieben und zwölf und spielte unter anderem für Leeds, Sheffield, Queens Park und nochmals Wimbledon weitere zehn Jahre Fußball. Als er mit 34 Jahren seine Karriere beendete, hatte er 438 Spiele als Profi auf dem Buckel. Er hatte im Defensivbereich alles gespielt und immer alles gegeben.

Er war stolze 13 Mal vom Platz geflogen und hatte mit drei Sekunden den Rekord der schnellsten Gelben Karte aufgestellt. Er hatte"mehr getrunken, als irgendjemand zählen kann". Er hatte die härtesten Hunde der Liga aus den Schuhen getreten.

Er hatte dem aufstrebenden Youngster Paul Gascoigne 1988 in die Kronjuwelen gegriffen. Er hatte eine Flinte auf seinen Trainer Howard Wilkinson gerichtet und er hatte einen Journalisten in die Nase gebissen.

Kurz: Vinnie Jones hat alles erlebt, er hat mit Blut, Schweiß, Alkohol und Speichel der Liga eine düstere Prägung verpasst und steht heute für den heute längst ausgestorbenen Typus des harten Hunde in der Premier League, die ihre Gegenspieler mit Tritten empfingen und dafür von den eigenen Fans verehrt wurden wie dunkle und grausame Götter.

Guy Ritchie machte ihn zur Kultfigur

Natürlich verschwand Jones nach dem Karriereende nicht von der Bildfläche und endete nicht in einer düsteren Spelunke als trauriger ehemaliger FA-Cup-Sieger, dem manchmal noch einer ein Bier ausgibt.

Schließlich beschrieb er sich schon 1988 als "Entertainer". Jones hatte eigene Radioshows, arbeitete als Fernsehschauspieler und schrieb sechs Jahre lang als Redakteur.

1998, also noch während der aktiven Karriere, bot ihm der britische Autor und Regisseur Guy Ritchie die Rolle des Big Chris im später zum Kultfilm avancierenden Streifen "Lock, Stock & Two Smoking Barrels" (deutsch: "Bube, Dame König, grAS") an, weil er die "Wut und die Komik" von Jones' mochte. Der brutale Thriller mit diversen komischen Momenten ging durch die Decke und Jones' Rolle als tumber Schläger wurde Kult.

Nach seinem noch prägenderen Auftritt in Ritchies nächstem Film "Snatch" an der Seite von Brad Pitt erhielt er diverse Preise wie den "Best Newcomer Award". Heute ist er bekannt, hat in Filmen wie "Password Swordfish", aber auch in trashigen und namentlich zu seiner wilden Karriere passenden wie "Mean Mashine - die Kampfmaschine" oder "Blast - Dem Terror entkommt niemand" mitgespielt. Seine Sätze aus den Richie-Filmen sind längst von der Jugend aufgenommen, selbst in Deutschland kennen ihn nicht nur Cineasten.

Das Menschliche hinter der Rüpel-Fassade

Bei all dem Erfolg der zweiten Laufbahn hat er seine wütende Ader lange Zeit nicht verloren. 2008 musste er nach einer Kneipen-Schlägerei mit 48 Stichen genäht werden. Heute ist er melancholischer - und in Therapie, um all den Zorn und all die Kontrollverluste aufzuarbeiten.

"Das Problem war, dass die Jungs sich geändert haben. Ich dachte, die Jungs, mit denen ich Fußball spielte, mit denen ich trank, mit denen ich kämpfte, würden immer da sein. Aber Menschen verlieben sich, bekommen Kinder. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass es nicht immer so sein würde. Es dauerte lange, bis ich erwachsen wurde", sagte Jones 2013 im Guardian und zeigt, dass hinter der rauen, mit Narben versehenen Fassade auch etwas Sanftes, Sensibles schlummert.

"Es dauerte 40 Jahre, bis ich einen Psychologen aufsuchte", so Jones."Ich frage mich oft, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich diesen Schritt vor vielen Jahren gemacht hätte." Das klingt bitter und zeigt, dass der eiserne Rüpel, den sie als toughe Ikone verehren, längst nicht der Mann aus Stein ist, mit dem man das Foul an Steve Mc Mahon oder all den "anderen Bullshit" assoziiert, der sein Leben geprägt hat.

Vinnie Jones ist ein Mensch, den man zum Titelbild einer nostalgischen Zeit stilisiert - einer Zeit, in der offene Sohlen und krachende Knie für ein ehrliches Geschäft standen. In der die Protagonisten, die man heute gerne "Echte Typen" nennt, aber nicht weniger menschliche waren als die Spieler der heutigen Generation.

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