Olympische Spiele - Michael Brunner im Interview: "Fürs Skifahren brauchst du mehr als nur Drill, dafür brauchst du auch Gefühl"

Die chinesische Trainingsgruppe in Garmisch
© privat
Cookie-Einstellungen

Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass die Vorstellungen zwischen Ihnen und den Chinesen doch weiter auseinander liegen?

Brunner: Als ich ihnen versuchte zu erklären, dass manches nicht so einfach geht, wie sie sich das vorstellen. Ich habe zum Beispiel zu erklären versucht, dass die Kinder hier mit drei oder vier Jahren schon mit dem Skifahren anfangen und bis sie 14 sind unglaublich viele Tage auf Skiern gestanden sind. Manche hören mit 14 schon wieder auf, und jetzt fangen wir mit den chinesischen Kindern in dem Alter erst an. Das muss man wissen. Das haben sie aber nicht verstanden.

Was war die Antwort, die Sie bekommen haben?

Brunner: Sie waren ungläubig und haben mir ihre ganz eigene Rechnung präsentiert. Wir haben 365 Tage im Jahr, wenn man davon 300 Tage trainiert, jeden Tag 6 Stunden, hätte man doch alles schnell aufgeholt. Sie wollten eine Karriere im Schnelldurchlauf. Das Problem war auch, dass sie immer von anderen Sportarten, in denen sie sehr erfolgreich sind, aufs Skifahren geschlossen haben, das funktioniert aber so nicht. Das geht ja schon damit los, dass wir gar nicht 300 Tage im Jahr Ski fahren können. Da hat die Natur etwas dagegen. Dazu kommt, dass man ja ganz neue Prozesse anstoßen muss, es braucht beim Skifahren ganz andere Bewegungen als im Turnen. Bis das verinnerlicht ist, dauert es Jahre. Das haben sie nicht verstanden. Genauso wenig, dass man die Kinder nicht immer in den roten Bereich bringen darf.

Was heißt das?

Brunner: Wir hatten auch chinesische Betreuer bei uns mit dabei, die sie mitgeschickt haben, zum Beispiel einen Nationaltrainer aus dem Judo. Einmal waren wir den ganzen Tag beim Skifahren und abends wäre eigentlich nur noch Regeneration angestanden.

Die chinesische Trainingsgruppe in Garmisch
© privat
Die chinesische Trainingsgruppe in Garmisch

Brunner über den Clash der Mentalitäten

Was auch sonst ...

Brunner: Für uns scheint das klar, aber der Judo-Nationaltrainer hat dann am Abend ohne unser Wissen noch ein Krafttraining angesetzt. Mit der Folge, dass am nächsten Tag alle Muskelkater hatten und wir nicht trainieren konnten. Ich habe ihm dann zu erklären versucht, dass das kontraproduktiv ist. Aber er meinte, dass die Kinder immer wieder in den roten Bereich hereingebracht werden müssen, damit sie die Stärke entwickeln, sich durchzusetzen. Im Judo kommt es ja ganz oft auf die letzten zehn Sekunden an, darauf wollte er sie irgendwie vorbereiten, das war sein Ansatz.

Und jede Erklärung Ihrerseits hat nicht gefruchtet?

Brunner: Leider nein. Es war unglaublich anstrengend, da immer wieder in die Diskussion zu gehen, da sind einfach völlig unterschiedliche Mentalitäten und Trainingsmethoden aufeinander geprallt. Die Chinesen glauben auch, dass die Chinesen grundsätzlich schneller regenerieren, die Aussage ist wirklich so gefallen. Wir haben aber mit unserem Arzt auch Untersuchungen gemacht und Laktatwerte gemessen, das Ergebnis war gleich wie bei unseren Schülern hier. Es war einfach schwierig mit der Zeit. Zumal es uns nicht nur um das rein Sportliche ging.

Sondern?

Brunner: Es war ja von Anfang an klar, dass nicht alle durchkommen und eines Tages bei Olympia starten können. Wir wollten aber, dass sie nicht nur Skifahren lernen bei uns, sondern dass wir sie auch als Menschen weiterentwickeln. Dass sie eine Sprache lernen, Deutsch oder Englisch, und sie vielleicht, wenn sie zurückkommen nach China als Dolmetscher arbeiten können. Oder dass sie Skilehrer werden können, in China werden ja Skigebiete gebaut. Wir hatten einen gesamtheitlichen Ansatz, der kam aber nicht so gut an. Das war einfach nicht gefragt.

Brunner: "Im Skifahren funktioniert das so nicht"

Und so hat es am Ende keinen Sinn mehr ergeben?

Brunner: So sehr mir die Kinder ans Herz gewachsen sind und so toll die Zeit mit ihnen war, wurde es mir am Ende zu viel. Es war eine unglaublich intensive und anstrengende Zeit, weil ich nahezu alles selbst organisieren musste und der Job weit über den des Trainers hinaus ging. Dazu kam, dass mein Ansprechpartner in China gefühlt alle vier Wochen ein anderer war, es wurde immer undurchschaubarer. Ich musste auch jeden Tag den Trainingsfortschritt festhalten und kommunizieren, genauso wie die Trainingspläne. Nun ist der Skisport aber situativ und auch vom Wetter abhängig, ich kann fünf Tage Slalom-Training planen, aber es kann immer sein, dass es kurzfristig nicht geht und wir umdenken müssen. Auch dieses Verständnis war leider nicht vorhanden. Trotzdem möchte ich die Zeit überhaupt nicht missen, ich habe sehr viel gelernt und sehr viele liebe Kinder und Jugendliche kennengelernt.

Wie blicken Sie auch nach Ihrer Erfahrung auf die Spiele in Peking?

Brunner: Ich muss ehrlich sagen, dass ich es nicht verstanden habe, dass die Spiele zum zweiten Mal in Folge nach Asien vergeben wurden. Das ist schon merkwürdig. Wenn ich alles einbeziehe, China, die Corona-Thematik, keine Zuschauer, dann sind das einfach keine Winterspiele, wie ich sie mir vorstelle. Ich verstehe auch jeden bei uns in der Region, der Angst vor dem Gigantismus des IOC hat und gegen eine Austragung gestimmt hat. Das IOC muss erkennen, dass man die Bevölkerung wieder viel stärker mitnehmen muss und man nicht diktatorisch Verträge auf den Tisch knallen kann. Wenn da ein Wandel einsetzen würde und wenn es um Themen wie Nachhaltigkeit gehen würde, dass die Natur so belassen wird, wie sie ist, dann würden die Menschen auch wieder für Olympia stimmen. Aber so wie es aktuell läuft, kann ich jeden verstehen, der das nicht will.

Glauben Sie, dass China in 20 Jahren auch eine Wintersportmacht sein wird?

Brunner: Grundsätzlich kann alles passieren, wir hätten auch nie gedacht, dass ein Brite den Slalom in Kitzbühel gewinnen kann. Aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass wir einen chinesischen Weltklasse-Abfahrer bekommen werden in den nächsten 20 Jahren. Dafür müsste China erst verstehen, dass man mit den knallharten Strukturen und den Methoden zwar in gewissen Sportarten sehr erfolgreich sein kann, aber im Skifahren funktioniert das so nicht. Fürs Skifahren brauchst du mehr als nur Drill, dafür brauchst du auch Gefühl.

Inhalt:
Artikel und Videos zum Thema