"Kopf ausschalten? Das ist totaler Quatsch!"

Von Interview: Liane Killmann
Weiße Kopfhörer sind Ulrich Conradys Markenzeichen: Gregor Schlierenzauer betreut er seit 2007
© Getty

Dr. Ulrich Conrady ist seit sechs Jahren Teil des Erfolgs der ÖSV-Skispringer. Der Neurobiologe betreute Weltcup-Rekordhalter Gregor Schlierenzauer von Karrierebeginn an. Mit SPOX sprach Conrady über seinen Einstieg in den Leistungssport bei der Handball-WM 2007, seine Beziehung zu Schlierenzauer, Skisprung-Schokolade und andere Geheimnisse.

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SPOX: Herr Conrady, Sie werden als Neuro-Coach oft mit Sportpsychologen verwechselt. Ganz falsch, werden Sie jetzt insistieren.

Ulrich Conrady: Stimmt. Neuro-Coaching heißt, Einfluss zu nehmen auf das Nervensystem. Dafür habe ich eine Methode entwickelt, die ich AVWF nenne, Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung.

SPOX: Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung?

Conrady: Das ist eine Schalltherapie, die das hochautonome Nervensystem balanciert. Ursprünglich habe ich sie für Kinder mit Wahrnehmungsstörungen entwickelt, die Methode stammt aus der Lerntherapie.

SPOX: Aber jetzt setzen Sie sie im Training mit Leistungssportlern ein. Seit wann arbeiten Sie mit Profis?

Conrady: Seit 2006. Ich gab Tennistraining, und der Vater eines Schützlings brachte mich auf die Idee, die Methode im Spitzensport einzusetzen.

SPOX: Das war Markus Baur, damaliger Kapitän der deutschen Handball-Nationalmannschaft. Warum kontaktierte er Sie?

Conrady: Baur hatte gerade zwei Operationen an der Achillessehne hinter sich und Probleme im Training. Er war der erste Leistungssportler, mit dem ich gearbeitet habe. Das hat sehr gut funktioniert. Da bat mich Baur, auch seinem Freund Henning Fritz zu helfen. Der Nationaltorhüter litt an einem Burnout, doch er wollte unbedingt zur Heim-Weltmeisterschaft 2007. Also arbeitete ich mit ihm.

SPOX: Der Einstieg in eine Erfolgsgeschichte.

Conrady: Stimmt, Fritz ging es schnell besser. Und die beiden stellten meine Methoden dem Bundestrainer Heiner Brand vor. Ich traf mich mit ihm, und kurze Zeit später war klar: Brand möchte mein System für die Heim-WM nutzen.

SPOX: Sie waren Teil des Wintermärchens?

Conrady: Genau, ich war im WM-Trainerteam und arbeitete jeden Tag mit der Mannschaft.

SPOX: Mit Erfolg, das DHB-Team wurde in Köln Weltmeister. Und heute coachen Sie mit den Skispringern um Gregor Schlierenzauer und den Alpinen Marcel Hirscher und Anna Fenninger die Wintersportelite Österreichs von Erfolg zu Erfolg. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Conrady: Österreichs Skispringer haben sich die "ARD"-Doku zur Handball-WM 2007 "Ein Wintermärchen" angeschaut. Und dabei fiel ihnen auf, dass die Spieler die ganze Zeit mit diesen weißen Kopfhörern durch die Gegend laufen. Selbst in der Freizeit, beim Essen, an der Tischtennisplatte.

SPOX: Daraufhin hat der ÖSV Sie kontaktiert?

Conrady: Ja, Skisprung-Trainer Alex Pointner kam zu mir und wollte genau wissen, was ich mit den Handballern gemacht habe. Und seit 2007 bin ich jetzt bei den Österreichern dabei, habe mit den Skispringern meine dritte Ski-WM und die fünfte Vierschanzentournee vorbereitet...

SPOX: ...und den ÖSV dabei zum fünften Sieg in Serie geführt.

Conrady: Ja, schon beim ersten Lehrgang war zu spüren, dass das Team sehr offen für meine Ideen ist. Drei Monate nach meinem Einstand sind wir in der direkten Saisonvorbereitung nach Ägypten geflogen. Erstmals ging es nicht in den Schnee.

SPOX: Warum nicht?

Conrady: Allein um bestimmte Hormone freizusetzen. Melatonin zum Beispiel. Das geht am besten mit viel Licht. Oder D3, der Körper bildet dieses Vitamin dann fast von selbst. Wir legen uns in der Vorbereitung also lieber eine Woche in die Sonne und machen gar nichts, um dann umso relaxter auf die Schanzen zu gehen.

SPOX: Pointner bezeichnet Gregor Schlierenzauer als extrem stark im Neuro-Coaching. Was macht die Arbeit mit Schlierenzauer so besonders?

Conrady: Gregor war mit Abstand der Jüngste, als ich 2007 anfing. Gerade 17 Jahre alt. Ich sprach mit ihm darüber, wie es in der Schule läuft. Er erzählte mir, wenn er im Weltcup gut springt, hakt es in der Schule, und wenn er in der Schule gut ist, ist er im Weltcup schlecht.

Gregor Schlierenzauer im SPOX-Interview

SPOX: Erst ging es um Hausaufgaben, und heute ist er mit 48 Weltcup-Siegen der beste Skispringer aller Zeiten?

Conrady: So ist es. Ich erklärte ihm, wie ich die Nervensysteme anspreche, was es bewirkt, und er fand das gut. Wir haben in dieser Ägyptenwoche also zusammen Urlaub gemacht, und ich habe ihm lerntechnische Kniffe verraten, wie er sich besser auf die Schule vorbereiten kann. Danach haben wir uns um das Training gekümmert.

SPOX: War es tatsächlich so einfach?

Conrady: Die Arbeit mit ihm ist nach wie vor sehr einfach. Er hat sofort gesehen, wie leicht sich Dinge umsetzen lassen und wie schnell sich Erfolge einstellen. Gregor gewann 2008/2009 den Gesamtweltcup mit neuem Punkterekord und machte gleichzeitig einen sehr guten Schulabschluss.

SPOX: Wie läuft heute die Trainingssteuerung zwischen Schlierenzauer und Ihnen?

Conrady: Mit Gregor ist es das Paradebeispiel. Da wird zwischen den Wettkämpfen noch mal telefoniert, aber im Prinzip weiß er schon vorher sehr genau, was er wann tun muss, um sein Trainingspensum umzusetzen und im Wettkampf das zu zeigen, was er drauf hat.

SPOX: Dabei hilft ihm Ihre Schalltherapie. Wie funktioniert das?

Conrady: Kurz gesagt, die modulierten Schallwellen stimulieren den Parasympathikus.

SPOX: Das klingt enorm wissenschaftlich. Wie erklären Sie diesen Vorgang dem Laien?

Conrady: Unser vegetatives Nervensystem besteht auf der einen Seite aus dem Sympathikus, der uns stimuliert und die Systeme hochfährt. Und im Normalfall, wenn wir nicht übermäßig gestresst sind, werden wir vom Parasympathikus wieder runtergefahren. Das ist das Nervensystem, das uns beruhigt und uns überhaupt in den Tiefschlaf hineinlässt.

SPOX: Was würde passieren, wenn der Parasympathikus nicht richtig funktioniert?

Conrady: Dann sind wir unausgeglichen, müde, können keinen Stress abbauen und uns nicht mehr konzentrieren. Im schlimmsten Fall droht ein Burnout. Das ist übrigens eine Supererfindung des Organismus, die allerletzte Reißleine, bevor Organe Schaden nehmen können.

Seite 2: Dopamin-Schokolade für Schlierenzauer und die Leistungen der DSV-Adler