"Springer hungern sich auf Mindestgewicht"

Von Interview: Marcus Giebel
Alexander Herr sprang von 1994 bis 2006 im Weltcup für das DSV-Team - dann kam Olympia in Turin
© Getty

Martin Schmitt hat mit dem Geständnis, er leide am Erschöpfungssyndrom, für Aufregung im Skispringer-Lager gesorgt. Das Thema Magerwahn kam wieder hoch. SPOX sprach mit Skispringer Alexander Herr, der gleichzeitig Gesundheitsberater ist, über das sensible Thema. Außerdem erklärt Herr, warum er nach großem Ärger mit dem Verband und einem Eklat rund um Olympia 2006 in diesem Winter noch einmal ein Comeback wagen wollte und gescheitert ist.

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SPOX: Sie sind erfolgreich im Frauen-Fußball tätig und arbeiten außerdem als Gesundheits- und Ernährungberater. Trotzdem wollten Sie es im Hinblick auf Olympia in Vancouver noch einmal wissen. Wann haben Sie gemerkt, dass es nach der Auszeit nicht reicht?

Alexander Herr: Wir hatten Anfang November eine interne Qualifikation in Klingenthal, die sehr stark misslungen ist. Schon im September und Oktober hatte ich einen kleinen Einbruch, auch ein Stück weit mental. Da habe ich gemerkt, dass es doch schwierig ist, Skispringen und meinen Beruf als Gesundheitsmanager zu kombinieren. Zudem wurden meine Frau Katrin und ich Anfang Oktober Eltern. Da war es letztlich zu viel, um erfolgreich Skispringen zu betreiben, denn die Sportart verlangt viel Konzentration.

SPOX: Der FIS-Cup, also die dritte Liga der Skispringer, in dem sie hätten starten können, war für Sie keine Option?

Herr: Nein, das muss ich mir wirklich nicht antun. Im Verband sieht man das wohl ein bisschen anders, aber ich habe mir gesagt, dass mir die Zeit dann doch zu schade ist. Da ist mir mein Beruf zu wichtig.

SPOX: Ist Ihre Karriere damit endgültig beendet?

Herr: Ich habe vor, im Winter je nach zeitlichem Verfügungsrahmen zu trainieren. Im Frühjahr werde ich dann entscheiden, was sinnvoll ist. Ob ich noch mal zwei oder drei Jahre dranhänge oder das Comeback doch als weniger erfolgreich abhake.

SPOX: Wie verliefen die ersten Schritte Ihres Comebacks?

Herr: Ich habe Anfang März mit dem Athletiktraining begonnen und bin Mitte Mai wieder ins Sprungtraining eingestiegen. Mit der Mannschaft habe ich dann bei einem Trainingslehrgang in Hinterzarten trainiert. Allerdings nicht als Mannschaftsmitglied. Ich habe zu denselben Zeiten trainiert und wurde abends auch mal zu einer Veranstaltung eingeladen. Ich habe auch versucht, mich während dieser Tage menschlich zu integrieren und das ein oder andere Vorurteil aus dem Weg zu schaffen. Das hat sehr gut funktioniert, ich habe positives Feedback bekommen.

SPOX: Und wie sah es sportlich aus?

Herr: Zum Ende des Lehrgangs hatten wir noch einen Wettkampf mit allen Springern der A- und B-Mannschaft, in dem ich Sechster wurde. In der Woche habe ich ein relativ hohes Niveau an den Tag gelegt, was auch von den Verantwortlichen bestätigt wurde.

SPOX: Sie haben dort auch Martin Schmitt getroffen, wegen dem Sie 2006 aus dem Olympia-Team geflogen sind - der Anfang des ganzen Ärgers mit dem Verband. Wie ist das Verhältnis zwischen Ihnen beiden heute?

Herr: Es hat sich wieder ganz gut eingerenkt. Er hat unserer kleinen Familie mit seiner Freundin zur Geburt unserer Tochter eine Karte geschrieben. Das war sehr nett. Im Frühjahr habe ich ihn angerufen, da haben wir miteinander geredet.

SPOX: Bereuen Sie den Eklat, der sich wegen Olympia 2006 zwischen Ihnen, Schmitt und dem DSV entwickelt hat?

Herr: Man hätte sicher manche Dinge diplomatischer lösen können. Aber ich stehe weiterhin zu dem, was damals alles passiert ist. Gerade auch, weil einiges gegen mich lief. Das war teilweise unprofessionell. Ich habe das nun aber abgehakt.

SPOX: Durch Schmitt ist das Thema Magersucht im Skispringen wieder aktuell. Was sagen Sie zu den neuesten Entwicklungen?

Herr: Die Thematik Gewichtsreduktion war immer aktuell. Die BMI-Regel (body mass index, Anm. d. Red.) war auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung, weil es vorher noch viel, viel extremer war. Das muss man aber möglicherweise noch mal nachbessern. Denn viele Springer hungern sich auf das Mindestgewicht. Man könnte ja theoretisch auch fünf Kilo darüber liegen.

SPOX: Was allerdings ein Nachteil wäre.

Herr: Man wird zwar dann vom Reglement nicht bestraft, jedoch ist man mit so viel Mehrgewicht nicht konkurrenzfähig. Letztlich war das Mindestgewicht also schon immer auch das Maximalgewicht. Die meisten Sportler haben ohne Anzug einen BMI von circa 18,5. Das ist schon ein deutliches  Zeichen, da muss man schon einiges für tun, um diesen Wert zu erreichen. Dass das mit Hungern zu tun hat, ist nachvollziehbar.

SPOX: Demnach waren die Aussagen von Schmitt keine Überraschung für Sie?

Herr: Nein, dass das Auswirkungen auf die Konzentration und die Blutparameter hat, das weiß man schon seit Längerem. Man muss allerdings aufpassen. Magersucht ist ein medizinischer Befund und den haben wir bei Martin nach meinem Wissensstand nicht. Und es gibt aktuell auch keinen anderen Fall, wo das bei einem Springer festgestellt wurde. Aber es ist definitiv so, dass wir uns sehr extrem ernähren müssen, um unser Gewicht zu erreichen.

SPOX: Schmitt sprach an, dass er sich oft schlapp fühlen würde und Schlafprobleme habe. Kennen Sie das aus eigenen Erfahrungen?

Herr: Ja, das hat man definitiv. Vielleicht betrifft es nicht jeden, aber ich gehe davon aus, dass es sehr, sehr viele gibt, die das Problem haben. Ich habe über die Medien mitbekommen, dass Anders Jacobsen auch extreme Schlafprobleme haben soll. Wir wissen alle, dass sein Trainer Mika Kojonkoski sehr stark auf das Gewicht achtet. Ich selbst habe ab 2003 mit einem sehr guten Ernährungswissenschaftler zusammen gearbeitet, habe auch in meinem Studium Gesundheitsmanagement das Thema Ernährung noch mal ordentlich abgegrast. Aber es fällt einem dennoch schwer. Wenn man Ernährungswissenschaftlern den Essensplan vorlegt, dann sagen die schon, dass es grenzwertig ist.

SPOX: Berichten Sie ein bisschen von Ihren Erfahrungen.

Herr: Schlafprobleme hat man, weil man einfach oft Hunger hat und das Hungergefühl in den Griff bekommen muss. Ich habe dann auch viel mit Nahrungsergänzungsmitteln gearbeitet. Dann hat es bei mir auch ganz gut funktioniert. Aber einfach mal etwas zu essen, weil man Lust hat, findet nicht statt. Das ist nur noch eine Nahrungsaufnahme, um Makro- und Mikronährstoffe in sich hinein zu bekommen, die notwendig sind. Da ist man immer haarscharf an der Grenze, und zwar nicht nur körperlich, sondern auch mental. Denn Essen hat auch ein Stück weit mit Lebensqualität zu tun. Dann kommt noch das Problem dazu, wenn sich der Erfolg nicht einstellt. Das ist auch bei Martin möglicherweise ein ausschlaggebender Punkt gewesen.

SPOX: Also rühren die Schlafprobleme von den Enttäuschungen der Saison und nicht anders herum?

Herr: So einfach kann man es auch nicht sagen. Aber wahrscheinlich ist er schon durch die Hungerei im Sommer etwas angeschlagen in den Winter gegangen. Es ist ja so, dass die Konzentration nachlässt, wenn man Hunger hat. Man braucht einfach auch für die geistige Leistungsfähigkeit entsprechende Nährstoffe. Unser Gehirn besteht zum Großteil aus Fetten, und wenn wir hungern, gehen wir dementsprechend auch an unsere Fett-Reserven. Was vielleicht auch auffällt: Springer, die mit dem Gewicht sehr weit unten sind, antworten in Interviews hin und wieder sehr apathisch, je länger die Saison andauert.

SPOX: Wie sieht es mit Schlappheitsgefühlen aus?

Herr: Vor oder während eines Wettkampfs hatte ich nie Probleme. Durch die Nahrungsergänzungsmittel war ich immer dementsprechend fit und zudem erreichte ich mein Gewicht durch intensives Training, was mich wiederum fitter werden ließ. Somit war ich bis zum Schluss der Saison in einem guten körperlichen Zustand.

SPOX: Ausgerechnet in der Olympia-Saison schwächeln die Deutschen mit Ausnahme des jungen Pascal Bodmer. Sehen Sie dennoch Medaillenchancen?

Herr: Beim Mannschaftswettbewerb gibt es immer eine Chance, bei der Konstellation, die wir im Moment haben. Da mache ich mir schon Hoffnungen auf eine Medaille denn Olympia hat immer seine eigenen Gesetze. Dieses Jahr sieht man außerdem, dass die anderen Nationen auch zu kämpfen haben, vier hochwertige Springer zusammenzubekommen.

SPOX: Die einzige Ausnahme ist Österreich. Warum sind die so stark?

Herr: Ich habe schon eine Vermutung, die ich aber nicht öffentlich machen will. Sie haben auf jeden Fall eine perfekte Technik, wobei sie sich dabei sehr unterscheiden.

SPOX: Inwiefern?

Herr: Andreas Kofler springt mit einem ganz anderen Bindungssystem als Thomas Morgenstern und Gregor Schlierenzauer. Er springt das System von Wolfgang Loitzl, sie haben eine sehr starke Bindung zwischen Ski und Körper. Loitzl springt eine sehr starke Technik auf Geschwindigkeit, genau wie Schlierenzauer. Morgenstern hat dagegen eher einen starken Absprung. Vielleicht macht sie das so stark, weil sie bei unterschiedlichen Verhältnissen gut zurechtkommen.

SPOX: Ahonen hat ebenfalls ein Comeback gewagt und gehört wieder zur Weltspitze. Überrascht Sie das?

Herr: Nein, das ist keine Überraschung. Schon beim Mannschaftsspringen in Kuusamo zu Saisonbeginn hat er gezeigt, was er kann und was er nicht verlernt hat. Dann hatte er etwas Pech und musste erst wieder in Tritt kommen. Aber jemand wie Ahonen, den kann man auch in fünf Jahren nachts um zwölf noch wecken und sagen "geh' mal nach Lahti auf die Schanze" und er würde dennoch gut aussehen. Er gehört zweifellos zu denjenigen, die das Skispringen am meisten geprägt haben.

Jahrelanges Abnehmen zwingt Schmitt zur Pause