"Denkmäler sind scheißegal"

Von Christoph Köckeis
Thomas Muster zelebrierte 1995 bei den French Open seine Erlösung
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SPOX: Innerhalb weniger Monate speckten Sie ab. Was motivierte Sie dazu?

Muster: Ich fing an Senior Tour zu spielen. Selbst Tennisrentner sind bestens in Schuss, also musste ich trainieren. Ich hasse halbe Sachen, bin ein extremer Typ. Irgendwann wollte ich schließlich auf Challenger-Ebene zurückkehren, weil es mich interessierte, wie das heutige Spiel funktioniert. Von den Jungen wurde ich plötzlich gesiezt. Aber der Zuspruch, den ich erfahren durfte, war enorm. Ich wusste, dass ich anfangs Haue bekomme, versuchte aus jedem Match zu lernen. Es war eine coole Erfahrung. Mit dem Auto zu Turnieren zu fahren, den Pass abzugeben, um drei Bälle zu kriegen, in Betten zu schlafen, wo man es nicht gewohnt war, im Supermarkt einzukaufen. Um solche Dinge kümmerst du dich auf der Tour nicht. Ich konnte es bewusster genießen. Seit zwei Jahren habe ich allerdings nicht mehr gespielt. Ich weiß gar nicht, wo meine Schläger sind, das sage ich ihnen ganz ehrlich (lacht). Die Sucht ist nicht mehr da.

SPOX: Ihr Comeback 2010 wurde kritisch bewertet. Es hieß, sie würden Ihr Denkmal zerstören - bereuten Sie es jemals?

Muster: Denkmäler sind jedem Sportler scheißegal. Wir wissen, wie es Michael Schumacher geht. Ich hoffe, er schafft es. Wenn es das Ende sein sollte, hat er zumindest die vergangenen drei Jahre das gemacht, was er liebte: Nämlich Formel 1 fahren. Die Geschichtsbücher kann man nicht zerstören, die sind geschrieben. Die Menschen, die unqualifizierte Kommentare abgeben, können sich nicht in einen Sportler versetzen.

SPOX: Ihre Laufbahn beschlossen Sie vor drei Jahren gegen Dominic Thiem. Jenen Hoffnungsträger, der Österreich wieder träumen lässt. Was trauen Sie ihm zu?

Muster: Er wird sich weiter nach oben spielen, ist derzeit auf dem 58. Platz und hat nichts zu verlieren. Die Wahrheit wird sich Ende nächsten Jahres zeigen, wenn er Punkte verteidigen muss. Er hat Potenzial, unbestritten, verfügt über ein super Spiel, ist geerdet, klar im Kopf und wächst in einem ruhigen Umfeld. Mit 21 Jahren ist er sehr weit, das zeigte der Sieg gegen Stanislas Wawrinka in Madrid. Nur Journalisten in Österreich heben Talente schnell in den Himmel, aber sind die ersten, die auf den armen Bub draufsteigen, wenn es nicht läuft. Dann heißt es: Typisch! Unlängst wurde ich gefragt, was ihm zur Nummer eins fehlt. 10.000 Punkte. Aus. Fertig. Das sind die nackten Zahlen. Dominic braucht Zeit. Vielleicht knackt er in diesem Jahr noch die Top 40, das wäre ein Erfolg.

SPOX: Thiem ist das neue Zugpferd für das Stadthallen-Turnier (11. bis 19 Oktober), selbst Roger Federer wird gehandelt. Welche Bedeutung hätte solch ein Superstar für die Erste Bank Open?

Muster: Hier wurde ein Event auf die Beine gestellt, das vermutlich besser organisiert ist als viele ATP-Masters-500. Nur ist die Kategorie schwer finanzierbar. Federer in Wien zu sehen, wäre da eine Auszeichnung. Es ist eine Sensation, wie er spielt, wie er Sport und Familie managed. Er trainiert hart und weiß, was zu machen ist. Ihm wünsche ich schnellere Bälle, dann würde er ganz nah an der Spitze sein und womöglich ein weiteres Grand Slam einheimsen.

SPOX: Trotz alledem wird ihm das Karriereende nahegelegt - was halten Sie davon?

Muster: Der Rücktritt ist die letzte Sensation, der Nachruf, wie ein Leichenschmaus. Gewonnen hat er alles, da gibt es nichts zu berichten. Federer soll noch zehn Jahre spielen, wenn er Lust dazu hat. Jedenfalls sollte es ihm vorbehalten sein, in Ruhe zu entscheiden. Ihm das nahezulegen, empfinde ich als Frechheit. Er ist die Nummer fünf der Welt. Keiner würde U2 sagen, sie sollten aufhören, obwohl sie noch zu den populärsten Bands gehören. Er wird auch bei den French Open weit kommen.

SPOX: Abschließend würde ich Sie um einen Tipp bitten inklusive Einschätzung aus deutscher Sicht.

Muster: Für mich kann es nur einen Favoriten geben und der heißt Nadal. Mit der Vorgeschichte sehe ich über 14 Tage keinen anderen Gewinner. Wer drängt sich auf? Stanislas Wawrinka, nein. Er spielt zu unkonstant. Und bei Djokovic ist ungewiss, ob sein Handgelenk hält. Tommy Haas traue ich stets ein Viertelfinale zu, vergangenes Jahr gewann er die Erste Bank Open. Hinter ihm ist die Fluktuation aber stark. Für ein Land mit 80 Millionen ist das zu wenig. Früher hatte man Steffi Graf, Stich und Becker in einer Generation - die Latte liegt hoch. Bei Tommy wird die Fitness entscheiden. Im modernen Tennis hängt vieles davon ab. Die Verletzungen häufen sich, das Material wird unnachgiebiger, das Spiel härter. Tennis hört nie auf, ist längst ein Zwölf-Monats-Sport. Immer weiter, immer länger.

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