"Denkmäler sind scheißegal"

Von Christoph Köckeis
Thomas Muster zelebrierte 1995 bei den French Open seine Erlösung
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SPOX: Wer profitiert vom Material am meisten?

Muster: Nadal ist der größte Nutznießer. Er weiß dank seiner Spielweise als einziger, Drall mitzugeben. Mein Anreiz wäre irgendwann, die Beläge zu lassen, dafür die schnelleren Bälle der 90er aufzulegen. Es würde signifikante Veränderungen geben. Derzeit lässt die langsame Filzkugel keine Variationen zu. In ihr steckt zu wenig Energie. Der Gegner bringt nicht mehr zurück, weil er schneller antritt. Er passiert auch nicht besser, durch das fehlende Tempo bietet sich ihm schlicht mehr Zeit. Deswegen stirbt Serve-and-Volley aus, dafür sind die Ballwechsel lang und die Matches nicht enden wollend. Es ist nicht mehr zu verkaufen, nicht fernsehtauglich.

SPOX: Fehlen dafür auch Typen?

Muster: Die Diskussion begleitet jede Generation. Uns sagte man das nach. Eine Generation später waren wir die witzigen. Es geht um Millionen, jeden Punkt gilt es sich mühsam zu erarbeiten, da fällt es schwer, zu unterhalten. Ich sehe auch keinen Formel-1-Fahrer, der während dem Rennen Unsinn macht. Ein Lächeln oder ein Wutausbruch sind das höchste der Gefühle. Was den Zusehern gefallen könnte, wird von der ATP zudem oft unterbunden und mit unverhältnismäßig hohen Strafen belegt. Der Sport ist professioneller, er ist "clean" geworden. Es bleibt kein Platz für Unkonzentriertheit, der Druck lässt das nicht zu.

SPOX: 1995 lasteten gigantische Ansprüche auf Ihnen. Sie eilten von Erfolg zu Erfolg, von Finale zu Finale, von Titel zu Titel - und dann kam Paris.

Muster: Ich arbeitete solange darauf hin und sehnte diese Trophäe herbei. Der Druck, den ich mir machte, war enorm. Ich wusste, allzu viele Chancen bekomme ich nicht mehr. Schon in den Jahren zuvor ging ich als Favorit in die French Open und scheiterte, während ich bei allen anderen Events auf Sand souverän triumphierte. Das war bitter. Mit einem Punkte entlud sich schließlich alles, es war wie eine Geiselbefreiung.

SPOX: Womit begründen Sie die Faszination Roland Garros?

Muster: Es ist das härteste Turnier. Wenn du eine Schwäche hast, dir ein Schlag fehlt, bist du verloren. Auf anderen Belägen konntest du mit einem guten Aufschlag-Volley-Spiel sehr weit kommen. In Paris nicht, da musst du komplett sein. Und es ist wetterabhängig. Der Platz kann sauschnell sein, wenn es heiß ist. Oder bei nasskalten Bedingungen verdammt zäh.

SPOX: Sie erlebten ein geschichtsträchtiges Jahr 1995: Zwölf Titel in einem Jahr konnte lediglich Roger Federer egalisieren. War es für Sie die beste Zeit ihres Lebens?

Muster: Mehr als zwölf Turniere-Erfolge, darunter ein Grand Slam, und Nummer eins zu werden, geht nicht. Ein Jahr später siegte ich in Key Biscane, das war ganz besonders. Damit schloss sich ein Kreis. 1989 konnte ich wegen des Unfalls nicht im Finale antreten. Was mir einst verwehrt wurde, bekam ich 1997 endlich. Es war mein letzter Titel und wie ein Geschenk. In meiner Karriere gab es verblüffende Dinge, das war eine Form von Gerechtigkeit. Noch dazu auf Hartplatz. Obwohl ich immer als reiner Sandplatz-König verkauft wurde. Aber ich entwickelte mein Spiel weiter, wie sonst hätte ich in Essen in der Halle gegen Pete Sampras bestehen, die Besten wie Jim Courier und Goran Ivanisevic schlagen können. Da wären wir zurück bei der Talent-Debatte.

SPOX: Welche Magie übt der 12. Februar aus?

Muster: Klar, das Datum vergisst man nicht (lacht). 1996 wurde ich Nummer eins der Welt. Es ist ein tolles Gefühl, wenn dir keiner mehr die Sicht verstellt. Ich musste an dem Tag Daviscup in Südafrika spielen. Unmittelbar danach ging es nach Dubai, ich kam um sieben Uhr morgens an, am Abend stand ich ohne Schlaf auf dem Platz - und verlor in Runde eins. Plötzlich hieß es: Wie kann der frischgebackene Weltanglisten-Führende gegen einen No-Name verlieren? Das sind die unschönen Seiten als Profi. Ein Finale zu spielen, war früher grundsätzlich mit Stress verbunden. Es interessierte niemanden, wie man zum nächsten Turnier kommt. Oft nahm ich das Gepäck zum Match mit. Um rechtzeitig zur ersten Runde zu kommen, flogen wir, wenn es nicht anders ging, im Privatjet. Da veränderte sich Gott sei Dank einiges. Heute spielst du dein Finale, lässt dich feiern, gehst schlafen und fliegst am nächsten Tag weiter. Für mich ein Ding der Unmöglichkeit.

SPOX: Zwei Jahre später flüchteten Sie nach Australien, ohne Ihren Rücktritt zu erklären: Wie wichtig war es, dem Trubel und der Prominenz zu entfliehen, die Normalität zu genießen, und sich mal gehen zu lassen?

Muster: Ich dränge nicht in die Öffentlichkeit, mir ist es kein Anliegen meine Meinung nach außen zu tragen, zu jeder Sache einen Kommentar abzugeben. Als ich nach Australien ging, war ich es gewohnt, acht Stunden zu trainieren. Plötzlich fiel das weg. Ich trank Bier, rauchte bis zu 60 Zigarettchen und aß wie immer, schon waren 20 Kilogramm mehr auf den Rippen. Nur die Dicken können abnehmen, die Dummen bleiben dumm.

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