"Spielsucht kann zum Problem werden"

Ilja Zaragatski (l.) und Jan Gustafsson (r.) sind internationale Großmeister im Schach
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SPOX: Inwieweit können Sie die Züge der WM-Finalisten voraussagen, wenn Sie deren Spiele live verfolgen, und wie oft sind Sie komplett überrascht vom folgenden Zug?

Gustafsson: Die Trefferquote bei solchen Voraussagen liegt bei etwa 60 Prozent. Es gibt viele Stellungen, aus denen heraus es eine Vielzahl gleichwertiger Züge möglich ist, das macht es gerade zu Beginn einer Partie schwer. Carlsen und Anand stünden aber nicht in diesem Finale, wenn sie nicht in der Lage wären, mit Ihren Zügen immer wieder für eine Überraschung zu sorgen - bei uns und beim Gegner. Genau das macht ja auch die Faszination aus.

SPOX: Im Verlauf einer Schach-Partie muss man viele Schritte vorausdenken. Denksportler nutzen bei solchen Denk-Ketten Eselsbrücken, oft in Form einer Reise, die sie sich einprägen. Gibt es im Schach Parallelen zu diesem System?

Zaragatski: Nein, im Schach gibt es keine Eselsbrücken oder dergleichen. Es ist wie eine Sprache, die man nur erlernt, wenn man sich sehr viel damit beschäftigt, unterschiedliche Stellungstypen kennt und seine Intuition schärft. Wenn man sie aber einmal wirklich verinnerlicht hat, verlernt man sie auch nicht mehr.

SPOX: Trotzdem muss man für jeden Gegner und jede Partie einen Matchplan ausarbeiten. Wie lange kann man an diesem festhalten und wann kommt der Moment, an dem man ihn verwerfen muss?

Gustafsson: Viele Schach-Neulinge oder -Interessierte wissen nicht, dass diese Heimvorbereitung ein ganz großer Teil des Sports ist. Man muss sich überlegen, zu welchen Stellungsbildern man die Partie lenken will und wie man den Gegner auf das gewünschte Terrain locken kann. Dazu gehört, die Schwächen des Kontrahenten zu analysieren und die eigenen Stärken einschätzen zu können. In Partie sechs haben wir zum Beispiel bis zum 25. Zug ausschließlich Spiel aus dem Buch gesehen.

SPOX: Spiel aus dem Buch?

Gustafsson: Das sind die Züge, die die beiden Spieler schon zu Hause vorbereitet haben und die wir schon in exakt dieser Reihenfolge gesehen haben. Gestern begann die eigentliche Partie erst nach 15 Zügen. Wenn diese Phase der Partie erreicht ist, ist Kreativität und Improvisation gefragt.

SPOX: Macht man es dem Gegner damit nicht einfach?

Zaragatski: Es kommt immer darauf an, was die Intention des Spielers ist. Anand verlässt sich auf seine gute Heimvorbereitung, versucht die Partie schon weit vorauszudenken und sich so lange wie möglich an diesen Plan zu halten. Carlsen ist da anders, er kommt etwa gerne schneller zum Endspiel, weil er dort sehr stark ist. In diesem Jahr sieht man aber, dass auch er viel Zeit in die Vorbereitung investiert hat, um gegen den analytischen Anand nicht in Nachteil zu geraten.

SPOX: Anand ist 44 Jahre alt. Wie lange kann er noch auf diesem Level spielen? In anderen Sportarten wird die Leistungsgrenze ja bereits deutlich früher überschritten.

Gustafsson: Der Trend zeigt, dass junge Spieler immer stärker und immer schneller stärker werden. Betrachtet man dazu die Liste der 100 besten Schachspieler weltweit, muss man feststellen, dass dort kein Spieler zu finden ist, der älter als 50 Jahre ist. Anand ist da schon hart an der Grenze. Wenn diese Grenze bei Fußballspielern bei etwa 35 Jahren liegt, sind es beim Schach zehn Jahre mehr. Ab 45 Jahren bauen die körperliche Fitness, das Gedächtnis und auch die Motivation ab.

SPOX: Ist dies bei Ihnen auch schon spürbar?

Gustafsson: Ich bin jetzt 35 und stagniere seit zehn oder elf Jahren auf einem fast unveränderten Niveau. Im Normalfall erreicht man seine höchste Spielstärke mit 23 oder 24 Jahren. Danach geht es eher darum, dieses Level konstant zu halten. Große Sprünge sind da nicht mehr drin.

SPOX: Dennoch steigt die Zahl der internationalen Großmeister stetig. Früher war dies ein sehr elitärer Kreis, heute gibt es fast 2.000. Wie kommt das?

Zaragatski: Das liegt daran, dass die Spielstärke konstant höher wird. Wir sprechen dabei von einer Elo-Inflation. Es gibt immer mehr Leute, die Schach spielen und über das Internet sehr schnell sehr viel Erfahrung sammeln und stetig besser werden. Es gibt Lehrvideos, Nachbetrachtungen und viele weitere Angebote, mit denen man sein Spiel enorm schnell steigern kann.

SPOX: Wie groß ist denn die tatsächliche Lücke zwischen diesen Spielern und den besten der Welt? Wie würden Sie beide zum Beispiel in einem Match gegen Carlsen abschneiden?

Zaragatski: Das kann man relativ einfach sagen: Der Unterschied ist sehr groß! Es gibt im Schach eine Erwartung, die Anhand der Wertungszahlen kalkuliert wird. Meine Erwartung gegen Carlsen läge etwa bei 1,5 Punkten aus zehn Partien, Jans bei etwa 2,5. Dieses System spiegelt die Chancen ganz gut wieder. Große Überraschungen gibt es da nicht. Betrachtet man zum Beispiel die beiden letzten WM-Finals, in denen Anand von bisher 20 Partien genau eine gegen Carlsen gewinnen konnte - und Anand ist der fünftbeste Spieler der Welt.

SPOX: Entsprechend denken Sie nicht, dass Anand das WM-Finale noch drehen kann?

Gustafsson: Alles andere, als auf Carlsen zu tippen, wäre ein ziemlich idiotischer Tipp (lacht). Er ist der stärkere Spieler und liegt vorne.

SPOX: Das klingt stark nach einer Entscheidung.

Zaragatski: Nein, soweit darf man nicht gehen. Beide Spieler stehen vor sehr wichtigen Fragen, die den Ausgang des Matches beeinflussen werden. Carlsen muss sich überlegen, ob er seinen Vorsprung ausbauen und in seinen Weiß-Partien auf Risiko gehen will, oder ob er versucht, Anand keine Angriffsfläche zu geben und auf Remis spielt.

SPOX: Ist das nicht sehr riskant? Anand hat gezeigt, dass er durchaus in der Lage ist, eine Partie mit Aufschlag für sich zu entscheiden.

Zaragatski: Das stimmt. Deshalb glaube ich auch nicht, dass Carlsen die Sicherheitsvariante wählen wird. Er wird versuchen, seine nächste Weiß-Partie (Do., 13 Uhr im LIVE-TICKER) zu gewinnen, um so den Druck auf Anand zu erhöhen.

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