Tour de France 1997: Als sich Jan Ullrich zum König krönte und als erster Deutscher die Tour gewann

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"Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn man seinen Körper so trimmen kann, dass man entweder gar nicht oder nur von ganz wenigen geschlagen werden kann." (Jan Ullrich, Welt am Sonntag 2002)

Es folgt die ultimative Demütigung für den Zweitplatzierten Virenque: Wenige Kilometer vor dem Ziel hat ihn sein Verfolger eingeholt, sofort schraubt sich Ullrich vorbei und ist auf und davon. Wer die Aufnahmen von damals Revue passieren lässt, staunt darüber, wie viel größer und kräftiger der Deutsche auf seiner Rennmaschine wirkt. "Er frisst sich regelrecht an seinen Gegner hin", staunt Rudi Altig am Eurosport-Mikrofon.

Ullrich hat die bessere Technik, er hat die größere Power. Er hat das Jahrhunderttalent. Und am Abend seinen Vorsprung im Gesamtklassement auf 5:42 Minuten ausgebaut. Vive le roi.

Ein König, dem das Volk zujubelt. "König Ullrich", so Le Parisien, ist ein volksnaher Souverän, mit rotem Haarschopf und Sommersprossen, mit Stupsnase und blitzendem Ohrring. Einer, der nicht viel redet, eher der nette Junge von nebenan. Die ARD berichtet mit täglichen Sondersendungen nach der Tagesschau, die Alpenetappen mutieren zu Pilgerstätten.

Dass man Ullrich auch leiden sieht, macht ihn nur noch sympathischer. Zweimal gerät er 1997 noch in Bedrängnis: Auf der zweiten Alpenetappe muss Riis ihn auf der Abfahrt vom Col du Glandon wieder ans Hinterrad der enteilten Festina-Fahrer um Virenque heranführen. Vier Tage später plagt er sich mit einer Erkältung durch die Vogesen, muss abreißen lassen. Es ist der Moment, in dem ihm Teamkollege Udo Bölts die berühmten vier Worte zuruft, die Jahre später auch den Titel seiner Autobiographie bilden werden: "Quäl dich, du Sau!"

Ulle quält sich.

"Wozu soll es gut sein, weiter zu lügen? Ich habe die Reisen von Jan nach Madrid zu Fuentes organisiert." (Rudy Pevenage, Sportlicher Leiter Team Telekom, L'Equipe 2010)

Nach und nach erfährt die Öffentlichkeit, dass sich Ullrich so gerne eigentlich nicht quält: Im Gegensatz zu vielen Konkurrenten ist er von Natur aus kein mit dem Rennrad verwachsener Asket mit speichenförmigen Oberarmen, sondern ein Genussmensch: Rotwein, hier und da ein Stück Torte, das eine oder andere Kilo zu viel aus dem Winter mitgebracht. Ein Mensch wie du und ich eben.

Als die neue "Nummer eins" der Radsportwelt am 27. Juli mit einem Glas Champagner in der Hand auf die Champs-Elysees einbiegt, hat sie unglaubliche 9:09 Minuten Vorsprung auf die Konkurrenz. Schon lange hatte kein Fahrer mehr so dominiert wie Ullrich. "Sonnenkönig Ullrich", titelt die Bild, "ganz Paris lag ihm zu Füßen".

Nicht nur Paris. Als das Team Telekom einen Tag später in Bonn eintrifft, warten schon mehrere tausend Fans vor der Firmenzentrale, auch Außenminister Klaus Kinkel ist da. Autokorso zum historischen Rathaus, Eintrag ins Goldene Buch der Stadt. Als Ullrich, stilecht im Gelben Trikot, auf den Balkon tritt, jubeln 20.000 Fans. Ein Meer aus magenta.

Man hätte es vorher kaum für möglich gehalten, aber aus dem Radfahrer Jan Ullrich ist ein Volksheld geworden. Ein Boom folgt, der an Boris Becker zwölf Jahre zuvor erinnert, an Michael Schumacher. Sensationelle Einschaltquoten, Rennräder auf den Straßen, natürlich wird er zum Sportler des Jahres gekürt. Und natürlich gehen alle davon aus, dass die Tour 1997 nur der Anfang gewesen ist. Für Ullrich sei "weit und breit kein ernsthafter Herausforderer zu erblicken", schreibt die Zeit am 1. August.

"Ich denke, ich habe beigetragen, einen riesigen Boom auszulösen. Außerdem gab es in über 100 Jahren Tour de France noch keinen anderen deutschen Sieger. Daher denke ich, dass das schon mit einem Wimbledon-Sieg gleichzusetzen ist." (Jan Ullrich, Kleine Zeitung 2015)

Das Jahrhunderttalent Ullrich wird die Tour nie wieder gewinnen. Fast ein Jahrzehnt lang leidet die Öffentlichkeit mit ihm, zuerst gegen Pantani, dann gegen Armstrong, gegen Übergewicht, Verletzungen. Dazu kommt ein Autounfall unter Alkoholeinfluss, Ecstasy. Team Telekom, dann Team Coast, Bianchi, dann zurück zur Telekom ins T-Mobile-Team. Fünfmal wird er Zweiter der Tour - und die Menschen lieben den tragisch scheiternden, auch an sich selbst scheiternden Ullrich fast so sehr wie den siegreichen.

Bis auch ihn das Thema Doping einholt. Erst 2013 gibt Ullrich offen zu, mit unerlaubten Mitteln nachgeholfen zu haben, dabei liegen die Fakten schon jahrelang auf dem Tisch. Der Held der Nation hat gedopt - ein Skandal, der fast schon keiner mehr ist. Wie Pantani. Wie Virenque. Wie Armstrong. Wie so viele andere. Betrogen, das habe er niemanden, betont Ullrich bis heute. Ob er das den (wenigen?) Fahrern, die damals auf ehrliche Art und Weise gegen ihn antraten, ins Gesicht sagen würde?

"Wer immer noch nicht eins und eins zusammenzählen kann, was im Radsport los war, dem kann ich auch nicht helfen." (Jan Ullrich, Bild am Sonntag 2009)

25 Jahre ist Ullrichs Triumph mittlerweile her, und wer die Euphoriewelle damals miterlebt hat, vielleicht sogar ein Teil ihrer war, wird mit einer gewissen Sehnsucht zurückblicken. Helden der Landstraßen und Serpentinen, deren übermenschliche Leistungen man damals noch kindlich-naiv genießen konnte. Begeisterung, die heute längst durch Zynismus erstickt wurde. Jan Ullrich hat dem Radsport nicht die Unschuld geraubt. Aber er hat sich schuldig gemacht, war Teil eines Systems, das durch das Krebsgeschwür Doping längst vollständig infiziert war. Wie viele Tests man auch durchführt: Es wird nie mehr so sein wie damals.

Kann man Ulles Antritt hinauf nach Arcalis heute noch feiern? Darf man? "El Piratas" Teufelsritte auf den Spitzkehren nach Alpe d'Huez? Lance Armstrongs Schauspiel 2000 in den Pyrenäen? Um es mit Ullrich selbst zu sagen: nicht so einfach zu beantworten.

Aber Mann, war das schön, als man sich diese Frage noch gar nicht zu stellen brauchte.

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