"Zurück in der Steinzeit"

Von Torsten Adams
Lance Armstrong schloss seine letzte Tour de France als 23. ab
© Imago
Cookie-Einstellungen

Szenen der Tour: Quietschegelbe Staatspräsidenten im Faustkampf

Jens Voigt in "Quietschegelb beim Jugendrennen"

16. Etappe nach Pau. Während die Kamera-Objektive stur auf Lance Armstrong bei dessen letztem großen Ritt blieben, ereignete sich weiter hinten im Feld ein Schreckensszenario. Auf der ersten Abfahrt des Tages, die vom Col de Peyresourde, platzte Jens Voigt das Vorderrad. Sofort schossen einem die Bilder von 2009 in den Kopf, als der Berliner - ebenfalls auf der 16. Etappe - mit 80 Sachen auf den Asphalt knallte und das Rennen aufgeben musste.

Was folgte, war eine weitere Episode aus Voigts verrücktem Radsport-Leben. Das Mitfahr-Angebot des Besenwagens schlug er dankend aus. Weil seine Rennmaschine hinüber und das Begleitfahrzeug weit voraus war, schnappte er sich das Rad eines Jugendfahrers und machte sich auf die Jagd nach dem enteilten Feld.

"Hinter dem Feld fand irgendein Kinderprogramm der Tour statt. Ich habe dann von denen ein Rad bekommen, quietschegelb und viel zu klein. Damit bin ich 15 Kilometer gefahren, bis mir ein Gendarm mein Ersatzrad in die Hand gedrückt hat", berichtet Voigt. Der Gendarm war einige Minuten zuvor von Saxo-Bank-Teamchef Bjarne Riis instruiert worden: "Pass auf, gleich kommt hier ein Fahrer vorbei, der gestürzt ist. Dem gibst du das Rad. Danke." Gesagt, getan. Voigt hechtete auf die Rennmaschine und setzte das Rennen - wenn auch schwer gekennzeichnet - fort.

Am nächsten Tag erschien der 38-Jährige als Mumie am Start der 17. Etappe. Seine Extremitäten eingewickelt in Mull. Die abgeschürfte Haut mit großflächigen Pflastern notdürftig zugekleistert. Ein Journalist wagt sich an den Verwundeten heran: "Herr Voigt, wie geht es ihnen?" Und Jens antwortete, wie nur er antworten kann: "Die Rippen fühlen sich eklig an, wenn ich mich bewege. Ich will eigentlich gar nicht wissen, was damit ist. Ich weiß, dass es weh tut. Ob gebrochen oder nicht, ist da unerheblich. Rippenbrüche sind eh überbewertet."

Jurgen van den Broeck in "Who the fuck is Sarkozy"

Jurgen van den Broeck ließ sich auf dem Weg zu seinem fünften Rang im Gesamtklassement von nichts und niemandem aufhalten. Nicht einmal vom französischen Staatspräsidenten. Der Belgier nahm nach der Etappe hinauf zum Tourmalet den direkten Weg zur Dopingkontrolle. Und der führte ihn mitten durch ein TV-Interview, das Nicolas Sarkozy just in dem Moment gab.

Die Bodyguards des Präsidenten fuchtelten hektisch an ihren Funkgeräten und zeigten latente Anzeichen von Panik. Sofort entschuldigten sich van den Broecks Betreuer, wollten schlichten und die missliche Situation erklären. Entschuldigen? Kommt nicht infrage, dachte sich van den Broeck und zeigte sich ausgesprochen ungehalten über den Auftritt von Sarkozy: "Wenn er mir im Weg steht, fahre ich ihn um. Wenn er zum Rennen kommt, muss er für die Fahrer zur Seite treten", so der 27-Jährige.

Doch das Rendezvouz zwischen Profi und Staatsoberhaupt war damit noch nicht beendet. Van den Broeck wurde von Sarkozys Präsidentenlimousine ein zweites Mal blockiert, als er sich auf den Weg hinunter zum Teambus machte. Und wer den Omega-Kapitän kennt, der weiß, was nun kam: Lautstark machte er seinem Ärger Luft. Als man ihn darüber informierte, dass es sich um Sarkozys Fahrzeug handelte, platzte van den Broeck endgültig der Kragen: "Das kann sonstwer sein, das kümmert mich überhaupt nicht."

Der Präsident selber schien mitbekommen zu haben, dass sich nicht jeder über seine Anwesenheit erfreute: "Ich bin hier nicht der Star, es geht um die Fahrer", zeigte Sarkozy ein wenig Einsicht, als er den Tourmalet verließ.

Carlos Barredo und Rui Costa in "Vier Fäuste und ein Vorderrad"

6. Etappe. Mark Cavendish holt sich in Gueugnon seinen zweiten Etappensieg. Die Deutschen reißen nichts. Nichts Besonderes.

Doch dann das! Kaum war der Zielsprint entschieden, bildete sich in der Ausrollzone eine Menschenmenge. Der Grund: Wie ein Berserker drischt Carlos Barredo auf den völlig perplexen Rui Costa ein. Zum Infight hatte der Spanier eigens sein Vorderrad demontiert und schlug abwechselnd mit seinem Campagnolo-Rad und heftigen Fausthieben auf den 23-Jährigen ein. Costa - noch im Sattel sitzend - verteidigt sich notdürftig mit den Händen vor seinem Gesicht.

Hier geht es zum youtube-Video!

Was war passiert? Hatte sich der junge Portugiese etwa im John-Terry-Style mit Barredos Gattin vergnügt? Man weiß es nicht.

Die offizielle Version lautet jedenfalls so: Offenbar hatte der Caisse-Profi Barredo im Kampf um die beste Position im Sprintfinale einen Hieb mit dem Ellenbogen mitgegeben. Im anschließenden verbalen Gefecht sollen dann sehr unschöne Wörter vonseiten Costas gefallen sein. Und klar: Ein richtiger Spanier lässt sich nicht so mir nichts dir nichts beschimpfen und beleidigen. Erst recht nicht von einem 23-Jährigen. Erst recht nicht von einem 23-jährigen Portugiesen. Das konnte Barredo wahrlich nicht auf sich sitzen lassen.

Die Experten rechneten mit einem Renn-Ausschluss für beide Fahrer. Caisse und Quick Step orderten bereits die Rückflüge für ihre Haudegen. Doch sie haben ihre Rechnung ohne die unberechenbare Tour-Rennleitung gemacht. 200 Schweizer Franken Strafe lautete das milde und für viele unverständliche Urteil.

Contador vs. Schleck: Das Duell der nächsten Jahre?

Die deutschen Fahrer: Nur Voigt mit Bestnote

Armstrongs letzte Tour: Der unrühmliche Abgang des einstigen Patrons