Ein Leben wie ein langer Sprint

SID
Hary war der erster Sprinter, dem es gelang, die 100 Meter in handgestoppten 10,0 s zu laufen
© spox

Je älter Armin Hary wird, desto mehr kommt ihm das Leben wie ein Hundertmeter-Lauf vor. Ein langer Sprint durch die Zeit. Dabei behauptet er seit über vierzig Jahren: "Mein Leben hat mit dem Olympiasieg und den 10,0 nichts zu tun!"

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Das ist kein Widerspruch, es war und ist seine Unabhängigkeitserklärung. Er musste nicht Olympiasieger und Weltrekordler werden, um aus seinem Leben etwas zu machen. Am Donnerstag wird Hary 75 Jahre alt.

Man kann nicht behaupten, dass er langsamer geworden wäre. Nicht auf seiner Lebensbahn. An einem Züricher Juniabend 1960 erreichte Hary als Erster die damalige Schallmauer menschlicher Geschwindigkeit, als er innerhalb einer halben Stunde die 100 Meter gleich zweimal in 10,0 Sekunden lief.

Hary gründete eine Stiftung

Auch heute noch kann es ihm nicht schnell genug gehen, wenn ihm etwas wichtig ist: "Ich hab noch soviel vor und immer viel zu wenig Zeit."

Als er vor zehn Jahren seinen Rentenbescheid erhielt, "war es wie ein Schock". Er ahnte nicht, dass die Erfüllung eines Traums erst noch bevorstand. Ein Traum, hervorgegangen aus der Realität seines eigenen Lebens: Im Dezember 2004 gründete Armin Hary eine Stiftung, die finanziell bedürftigen Sporttalenten im Alter zwischen vier und zwölf Jahren ihren Sport ermöglicht.

"In diesem Alter", sagt er, "gehen dem Sport die meisten Talente verloren."

Zu arm, ein Fahrrad zu kaufen

Für seine "AHA-F" (Armin Hary-Förderung) arbeitet er noch heute bis zu 14 Stunden am Tag. Ist im ganzen Land unterwegs, hängt am Telefon. "Es ist eine Schande, dass es in unserem Land schätzungsweise drei Millionen Kinder gibt, die keinen Sport treiben können, weil ihre Eltern nicht genug Geld für ihre Fahrten zum Training, zu Wettkämpfen und für die Ausrüstung haben." Kinder, um die sich weder Sponsoren, noch die staatliche Sportförderung scheren. Kinder, wie er selbst eines war.

"Die Lage ist einzigartig. Südhang. Direkt am Wald." Es könnte ein Anzeigentext von Armin Hary sein, als er sich in den sechziger Jahren als junger Immobilienmakler im Münchner Nobelviertel Bogenhausen etablierte.

Es ist jedoch die Beschreibung eines Neubauviertels, wo es seit Mai 2010 eine "Armin-Hary-Straße" gibt. Im saarländischen Quierschied, wo der Weg des Bergmanns-Sohns Armin Hary begann.

"Wäre unsere Wohnung in Quierschied nicht unmittelbar neben einem Sportplatz gelegen, auf dem ich als Jugendlicher täglich meine freie Zeit verbrachte, gäbe es keinen Olympiasieger Hary. Meine Mutter war zu arm, um mir ein Fahrrad zu kaufen."

Rivalen von einst verbindet heute Lebensfreundschaft

Mit 14 Jahren begann er eine Lehre als Feinmechaniker. Er wäre gerne Jurist geworden, "aber ich hatte ja nicht die Schulbildung." Noch ein halbes Jahrhundert und ein ganzes Leben als erfolgreicher Geschäftsmann später, klingt eine, wenn auch überwundene, Bitterkeit durch. Dieses Defizit hat ihn immer geschmerzt, "schon als junger Mann."

In den 50er Jahren war der Sport noch ein Abbild sozialer Grenzen. Leichtathletik war ein Sport für Töchter und Söhne aus dem höheren Bürgertum. Manfred Germar, angehender Betriebswirt, und der Ingenieurstudent Martin Lauer waren bereits Weltstars der Aschenbahn, so schnell und zeitweise sogar schneller als die besten schwarzen Sprinter, als Harys Stern aufging.

"Die kamen schon aus einer anderen Welt für mich", erzählt er. "Doch sie haben mich das niemals spüren lassen." Heute verbindet die Rivalen von einst eine Lebensfreundschaft.

Ärger mit den Funktionären

Nur für die Funktionäre war Hary stets der Widerspenstige, der nicht dazu gehören sollte. "Die Funktionäre sollten für die Athleten da sein und nicht umgekehrt", mokierte er sich. "Die stehen im Smoking da, und wir armen Schlucker im Trainingsanzug."

Als Hary 1958 in Friedsrichshafen zum ersten Mal die 100 Meter in 10,0 gelaufen war, ordneten die Verbandsfunktionäre eine millimetergenaue Nachmessung der Bahn an. Und siehe da: Sie hatte einen Zentimeter zu viel Gefälle. "Die haben es mir nicht gegönnt", sagt er. 1960 untersagten sie ihm den Start in Zürich, wo er dann trotzdem Weltrekord lief.

Unmittelbar nach seinem Olympiasieg in Rom sperrten sie ihn für ein Jahr. Wegen einer unerlaubten Spesenabrechnung über 70 Mark. An dem Tag, als seine Sperre ablief, trat Hary zurück.

"Die meisten Kämpfer und Siegertypen kommen aus hungrigen Bevölkerungsschichten", erklärt er mit Blick auf seine Stiftung. Er empfindet es selbst, wenn er seine Hobbysammlung alter Traktoren betrachtet. Manche glänzen wie neu. Armin Hary hat sie selbst lackiert. Es gibt nicht viele ehemalige Immobilienmakler, die Traktoren lackieren können. Und er weiß, dass es noch viel weniger gibt, die lackieren lernen mussten und Immobilienmakler geworden sind.

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