Aus den Schatten der Banlieues

Von Bastian Strobl
Jean-Marc Mormeck steht gegen Wladimir Klitschko vor der Chance seines Lebens
© Getty

Jean-Marc Mormeck will sich am Samstagabend gegen Wladimir Klitschko (Sa., 22.45 Uhr im LIVE-TICKER) seinen Traum erfüllen und als erster Franzose Schwergewichts-Weltmeister werden. Es könnte das Ende einer langen Reise sein, die einst in einem Pariser Problembezirk begann und beim Militär fast ihr Ende gefunden hätte. Zumindest in Sachen David Haye hat der 39-Jährige seinem Gegner bereits jetzt etwas voraus.

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Es waren Szenen wie im Krieg: Autos brannten, Bushaltestellen wurden zerstört, Steine flogen durch die Luft. Was im Jahr 2005 in den Pariser Vororten begann und sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land verbreitete, waren wohl die schlimmsten Straßenkrawalle, die Frankreich in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte.

Es war der Aufschrei der Jugendlichen gegen die Arbeitslosigkeit. Gegen die soziale Ungerechtigkeit. Gegen das Regime. Vor allem war es aber der Ruf nach Aufmerksamkeit, den einst auch Jean-Marc Mormeck in sich trug. Der in Guadeloupe geborene Boxer wuchs in Bobigny auf, einem dieser ärmlichen Banlieues.

Genau dort hat Ende der 70er Jahre sein erster Kampf begonnen, lange bevor er in einen Ring treten sollte. Von Mitschülern wegen seines Akzentes verspottet, musste er sich bereits damals durchboxen.

Thaiboxer und Fußballer in der Jugend

Als Außenseiter hat er schnell lernen müssen, wie man sich unter schwierigen Bedingungen zurechtfindet. Oder um es martialisch auszudrücken: wie man trotz rassistischer Anfeindungen überlebt.

Vielleicht wäre Mormeck trotzdem in einem Sumpf aus Drogen und Gewalt versunken, hätte er nicht schon früh seine Leidenschaft für den Sport entdeckt. Nach den ersten Versuchen im Thaiboxen fing er beim ABC Bobigny mit dem Fußball an.

Mit Erfolg, wie sein ehemaliger Jugendtrainer stolz erzählt: "Jean-Marc war ein sehr talentierter und athletischer Sportler. Er hätte es wahrscheinlich weit gebracht im Fußball."

Boxen als Kindheitstraum

Doch das Schicksal schlug unnachgiebig zu. Mormeck verletzte sich schwer und beendete seine Karriere auf dem Rasen. Doch während sich diese Tür schloss, öffnete sich nahezu gleichzeitig eine andere. Er erinnerte sich an seinen Kindheitstraum: das Boxen.

"Mein Vater hat mir das Boxen in die Wiege gelegt. Immer wenn große Fights im Fernsehen zu sehen waren, weckte er mich auf und wir schauten uns gemeinsam die Besten der Besten an. Ich liebte diese großen Spektakel. Ich erinnere mich noch an Ali, Hagler, später Tyson. Das war einfach toll", so Mormeck gegenüber "RTL".

Und noch etwas anderes stachelte ihn an. Er, auf den immer nur herabgeschaut wurde, wollte endlich bejubelt und gefeiert werden. Nicht als Statist in einer Mannschaftssportart, nicht als einer unter vielen, sondern als Hauptdarsteller auf der großen Bühne.

Erste Amateurkämpfe ohne Trainer

Er wollte der Beste der Besten sein. Wie viele, die diesen Wunsch hegen, musste allerdings auch Mormeck erkennen, dass dieser Weg mit Hindernissen gepflastert ist: "Wie so viele Jungs in diesem Alter und in dieser Gegend dachte ich, dass ich der Beste und Stärkste bin. Doch dem war damals nicht so, das musste ich auf die harte Tour lernen."

Seine ersten Amateurkämpfe bestritt er einst ohne Trainer. Während seine Kollegen in den Ring stiegen, um Erfahrungen zu sammeln, boxte Mormeck vor allem, um finanziell über die Runden zu kommen.

Die Rückkehr nach Paris

17 Kämpfe später war der Traum von der Box-Karriere trotzdem fast schon zu Ende. Nicht sicher, ob er den Sprung zu den Profis schaffen würde, entschied sich der Franzose, sich beim Militär zu melden.

Nach einigen Jahren fand er sich bei einem Sicherheitsdienst in Paris wieder, um ausgerechnet in den Problemvierteln für Ruhe und Ordnung zu sorgen, aus denen er einst gekommen war.

Es schien fast so, als hätte sich der Kreis für Mormeck geschlossen. Er war zu Hause. In seiner Umgebung. Altbekannte Probleme vor der Brust, aber mit neuen Fähigkeiten gesegnet: "Ich war dafür bekannt, dass ich gut hinlangen konnte. Aber man respektierte mich auch, da ich die gleiche Sprache wie die Jungs auf der Straße sprach."

Titelgewinn gegen Virgil Hill

Sein Traum ließ ihn allerdings nicht los. Er wollte immer noch der erste französische Schwergewichts-Weltmeister werden. Deswegen besann er sich 1995 eines Besseren, packte die Boxhandschuhe wieder aus und wechselte ins Profilager.

Auch zwei Niederlagen in den ersten fünf Fights entmutigten ihn nicht. Zu Recht, wie sich über die nächsten Jahre herausstellte. Bis 2006 blieb er danach ungeschlagen und konnte sich dabei durch Erfolge über Virgil Hill und Wayne Braithwaite die WBA- und WBC-Krone im Cruisergewicht aufsetzen.

Den Boden unter den Füßen verlor er trotzdem nicht. Auch am vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere vergaß Mormeck seine Wurzeln nicht und engagierte sich für diverse Charity-Projekte, die insbesondere schwer erziehbare Kinder unterstützen.

"Wäre ich kein Boxer geworden, hätte ich sicher meine ganze Energie an solche Kinder weitergegeben. Es macht mir sehr viel Spaß, diesen Kindern zu helfen und mit ihnen zu reden. Manchmal müssen sie von Typen wie mir einfach erfahren, dass es etwas bringt, sich in der Schule anzustrengen und etwas zu lernen", erzählt Mormeck.

Vergleich mit Mike Tyson

Seine Gegner lernten zu dieser Zeit vor allem eine schmerzhafte Regel kennen: Ein Kampf dauert keine zwölf Runden und am Ende heißt der Sieger Mormeck. Zusammen mit seiner selbst für das Cruisergewicht geringen Körpergröße von 1,81 Meter wurde er bald mit keinem Geringeren als Iron Mike Tyson verglichen.

Was für jeden Promoter ein gefundenes Fressen darstellte, schürte in Frankreich jedoch zu hohe Erwartungen. "Ich bin nicht Tyson. Ich habe nicht seine Explosivität und seinen Punch", betont Mormeck deshalb auch vor dem Kampf gegen Wladimir Klitschko, "aber ich habe einen unbändigen Willen und große mentale Stärke."

Das half allerdings alles nichts, als er 2007 David Haye zum Opfer fiel, auch wenn Mormeck bemerkt: "Im Gegensatz zu Klitschko hatte ich David Haye am Boden und kurz vor dem Knockout." Der Titelverlust signalisierte das vorläufige Karriereende. Zwei Jahre lang war vom "Marksman" nur in seiner Tätigkeit als TV-Experte zu hören.

Körperliche Nachteile gegenüber Klitschko

Bis er 2009 - diesmal als Schwergewicht - in den Ring zurückkehrte. Dass er gerade einmal drei Kämpfe in der Königsklasse des Boxens benötigte, um einen Titelkampf zu erhalten, spricht trotzdem weniger für ihn als für die derzeitige Lage im Schwergewicht. Einzig sein zweiter Gegner, Timur Ibragimov, hat als Cousin von Ex-Weltmeister Sultan Ibragimov in der Szene einen gewissen Namen

Die Experten sind sich deswegen weitgehend einig, dass auch er kein Mittel gegen Klitschkos Jab finden wird. Ein Hauptgrund dafür: Die körperlichen Nachteile gegenüber dem Weltmeister sind noch eklatanter als bei seinen Vorgängern. Satte 17 Zentimeter ist Mormeck kleiner, und auch bei der Reichweite sprechen die Zahlen deutlich für Klitschko (188 cm zu 206 cm).

Im In-Fight zum Erfolg?

"Ich bin ich, und die Anderen sind die Anderen", wischt Mormeck diese Fakten vor dem Kampf mit einer gewissen Trotzigkeit vom Tisch.

Er sei zwar sicherlich kein Distanzboxer wie Klitschko, habe aber trotzdem einen Plan. Wie der aussehen wird, lässt sich leicht erahnen. Die einzige Möglichkeit des Herausforderers besteht darin, Klitschko in den In-Fight zu bekommen.

Dass daran schon weit Bekanntere scheiterten, scheint den klaren Außenseiter zumindest äußerlich nicht weiter zu stören. Schließlich hat er mit dieser Rolle bereits früher seine Erfahrungen gemacht.

Die Weltranglisten der vier Verbände

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