Unruhen in Tibet stürzen Olympia in Dilemma

SID
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© Getty

Hamburg - Die Unruhen in Tibet haben den internationalen Sport in das befürchtete Dilemma gestürzt. Nach dem Boykott-Aufruf von Hollywood-Superstar Richard Gere und Exil-Tibetern sind Sport-Funktionäre fünf Monate vor der Olympischen Eröffnungsfeier in Peking um Deeskalation bemüht.

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"Der Boykott würde nichts lösen. Im Gegenteil. Er bestraft nur unschuldige Athleten", sagte IOC-Präsident Jacques Rogge (im Bild). Auch Innenminister Wolfgang Schäuble warnt vor einer Politisierung des Sports.

"Der Sport kann seine Wirkung nur entfalten, wenn die Olympischen Spiele stattfinden", meinte der CDU-Politiker. Heiner Brand sprach als ehemaliges Boykott-Opfer aus eigener Erfahrung.

"Ich habe das selbst einmal miterlebt 1980. Das ist das Schlimmste, was einem Athleten passieren kann", erklärte der deutsche Handball-Bundestrainer.

Versäumnis von Rogge

Tatsächlich hatte es ausgerechnet Rogge nicht nur bei seiner großen Rede auf dem Platz des himmlischen Friedens ein Jahr vor Olympia versäumt, mit einer klaren Äußerung in der heiklen Menschenrechtsfrage sanften Druck auf das Organisationskomitee in Peking (BOCOG) auszuüben.

Jetzt gleichen die Reaktionen aus der Defensive heraus einem schwachen Versuch der Schadensbegrenzung. "Boykott wäre der falsche Weg", sagte Thomas Bach.

Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes befürchtet keinen Imageverlust der Olympischen Spiele, hofft auf "eine friedliche Lösung durch Dialog", verurteilt aber die Tumulte in Tibet.

"Jede Anwendung von Gewalt ist immer ein Rückschritt", so Bach, "wir rufen beide Seiten zu einem Gewaltverzicht auf."

Keine Beeinflussung durch Ausschreitungen

Die chinesischen Olympia-Macher sehen ihre Spiele von den Ausschreitungen unbeeinflusst. "Wir lehnen jeden Versuch ab, die Spiele zu politisieren", erklärte BOCOG-Sprecher Sun Weide und reagierte damit auch auf erzürnte Kommentare in der Weltpresse.

"Schlägt China zu hart zu, riskiert es einen Boykott der Sommerspiele", mutmaßte "der Standard" in Wien. "Das Regime muss entscheiden, ob es sich dem internationalen Druck beugen oder die Olympische Fahne mit Blut besudeln will", kommentierte der "Corriere della Sera".

Der "Tages-Anzeiger" aus Zürich kritisierte: "Falls Rogge auch jetzt noch schweigt anstatt von der chinesischen Regierung Mäßigung in Tibet zu fordern, hat das IOC jegliche Glaubwürdigkeit verspielt."

NOK kritisiert IOC

Das vom IOC nicht anerkannte Nationale Olympische Komitee (NOK) Tibets reihte sich in die IOC-Schelte ein. NOK-Präsident Wango Tethong schrieb in einem Brief an Rogge, das Internationale Olympische Komitee und seine Sponsoren hätten es versäumt, die chinesische Regierung an ihr Versprechen zu erinnern, die Menschenrechtssituation zu verbessern.

"Ihr feiges Schweigen hat die Chinesen ermutigt, die Unterdrückung in Tibet fortzusetzen", so Tethong in seinem Schreiben.

Die deutschen Olympier reagierten mit Besorgnis auf die Nachrichten aus Tibet. "Die Situation beunruhigt mich, und ich kritisiere sie auch, aber ein Boykott bringt niemandem was. Die einzig Leidtragenden wären die Athleten", sagte Michael Vesper, Chef de Mission des deutschen Olympia-Teams.

Tröger gegen Boykott

Auch das zweite deutsche IOC-Mitglied Walther Tröger sprach sich deutlich "gegen einen Boykott" aus, und Klaus Schormann, IOC-Berater im neuen Projekt "Olympische Jugendspiele" und Präsident des Internationalen Verbandes für Modernen Fünfkampf, forderte Solidarität in allen Bereichen: "Der Sport darf sich nicht benutzen lassen. Ein Boykott ist die schlechteste Waffe überhaupt."

Soviel Einigkeit herrschte unter den deutschen Verbands-Obereren und Athleten lange nicht mehr. Weltrekord-Schwimmer Thomas Rupprath will "den Sport nicht missbraucht sehen", Speerwurf-Europameisterin Steffi Nerius prangerte die Unwissenden an: "Wer jetzt Boykott fordert, weiß gar nicht, dass wir vier Jahre für Olympia trainieren. Mir tun jetzt noch die Athleten leid, die sich für die Boykott-Spiele 1980 und 84 vier Jahre lang umsonst vorbereitet hatten. Deswegen halte ich überhaupt nichts von einem Boykott."

Der sechsmalige Ruder-Weltmeister Roland Baar, Ex-Mitglied der IOC-Athletenkommission, zeigte Verständnis für den Boykott-Appell: "Ich bin dagegen, kann aber die Forderung danach verstehen. Jetzt soll der Sport wieder die moralische Instanz der Welt sein, aber die ganze Wirtschaft arbeitet mit China zusammen."