Olympia war schon immer politisch

SID

München - Das brutale Vorgehen Chinas in Tibet fünf Monate vor Beginn der Sommerspiele in Peking konfrontiert die Olympische Bewegung erneut mit einem Szenario, das seit 1988 der Vergangenheit anzugehören schien: Boykott.

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Der Sport könnte erneut zum Spielball der Politik werden und damit würde auch bestätigt: Die Olympischen Spiele waren und sind immer politisch.

Boykotte, Erpressung und Geiselnahme bis zum Mord, Flaggen- und Nationalitätenstreit, Demonstration der angeblichen Überlegenheit staatlicher Systeme - mit Olympia wurde immer auch Politik gemacht.

"Frieden und Völkerverständigung" 

Und dies von Beginn an mit ihrem Gründer als Herold. Als Pierre de Coubertin die Wiederbelebung der antiken Spiele propagierte, schwebte ihm "eine dem Frieden und der Völkerverständigung dienenden olympischen Veranstaltung" vor.

"Frieden und Völkerverständigung" schrieben sich fortan Politiker jeder Geisteshaltung auf ihre Fahnen. Schon die ersten Spiele 1896 in Athen hatten ihr politisches Scharmützel.

Ungarn demonstrierte Eigenständigkeit von der k.u.k.- Donaumonarchie Österreich-Ungarn und trat mit Genehmigung Coubertins als eigene Mannschaft an.

1920 wurden Länder ausgeschlossen 

Der Franzose sprach von der "olympischen Geo-Politik, mit der die staatliche Souveränität außer Kraft" gesetzt werde. Das wiederholte sich bis 1912, als auch noch das russisch-besetzte Finnland selbstständig vertreten war.

Die früh beschworene "Einheit der Olympischen Bewegung" war schon nach dem Ersten Weltkrieg ein leeres Wort. Die Kriegsverlierer Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und Türkei waren 1920 in Antwerpen nicht dabei. Zwar hatte sich Coubertin geweigert, diese Länder auszuladen.

Doch er beugte sich - wie 1924 in Paris, wo Deutschland noch zuschauen musste - dem Druck der belgischen und französischen Regierung, die eine Einladung untersagten. Ebenso verhielt sich IOC-Präsident Sigfrid Edström bei den Spielen 1948, als Deutschland und Japan nicht antreten durften.

"Drittes Reich" und "Kalter Krieg" 

Deutschland machte die Olympischen Spiele 1936 zu einem Büttel der Politik. Hitler nutzte die Winter- und Sommerspiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin zu einer gewaltigen Propaganda-Schau für sein "Drittes Reich" und die Nazi-Philosophie von der Überlegenheit der "arischen Rasse".

Er gaukelte den Olympiern die Einhaltung der olympischen Regeln vor, obwohl Juden bereits verfolgt, Kriegspläne längst geschmiedet wurden.

In größte Not gerieten die Spiele, als sie zum Schauplatz des Kalten Krieges zwischen Ost und West wurden. "Mit der Aufnahme der Sowjets haben wir die Olympische Bewegung politisiert", sagte Edström 1952.

Deutschland-Frage

Das Jahr markiert auch den Beginn der olympischen Deutschland-Frage. Obwohl noch nicht anerkannt, bot das IOC der DDR den Anschluss an das (west)deutsche NOK an. Die DDR lehnte ab und fehlte.

1956 war sie dabei, in einer gesamtdeutschen Mannschaft, die dann auch 1960 und 1964 gebildet wurde. Am 6. Oktober 1965 ließ das IOC in Madrid zwei deutsche Teams zu, die "doppelten Deutschen" hatten in Mexiko-Stadt Premiere.

Erst die Wiedervereinigung beendete das 20-jährige Kapitel zweier deutscher Teams bei Olympia. 1956 griff die Politik ganz massiv in die Olympischen Spiele ein.

Dunkles Kapitel 1972 

Ägypten, Irak und der Libanon boykottierten Melbourne wegen der Rolle Israels in der Suez-Krise. Spanien, die Niederlande und die Schweiz blieben aus Protest gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes durch sowjetische Truppen fern.

Nach dem Einmarsch der Sowjets und ihrer Verbündeten in die CSSR wollten 1968 die Skandinavier nicht teilnehmen. Studentenrevolten mit zahlreichen Toten kurz vor den Spielen in Mexiko-Stadt stellten die Ausrichtung der Spiele sogar in Frage.

Ein ganz dunkles Kapitel wurde 1972 in München geschrieben. Am 5. September überfielen palästinensischen Terroristen das israelische Quartier im Olympischen Dorf, töteten zwei Israelis, forderten die Freilassung von 200 arabischen Häftlingen aus Gefängnissen Israels und für sich freien Abzug.

"The games must go on" 

Bei einer Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck kamen alle neun israelischen Geiseln, ein Polizist und fünf Terroristen ums Leben. "The games must go on", rief IOC-Präsident Avery Brundage der erschütterten Welt zu und ahnte nicht, dass Olympia immer mehr in den Würgegriff der Politik geriet.

In Montreal 1976 begann die unsägliche "Boykott-Trilogie". Sie bewirkte politisch nichts, ließ nur die Sportler als Verlierer zurück. Die Schwarz-Afrikaner verlangten den Ausschluss Neuseelands, weil die "Kiwis" im Frühjahr mit einem Profi-Team eine Rugby-Tour durch das vom IOC ausgeschlossene Apartheid-Südafrika (von 1964 bis 1988) unternahmen. Das IOC widerstand dem Druck. 28 afrikanische Teams reisten ab.

1980 in Moskau waren von den 146 vom IOC anerkannten NOKs nur 81 dabei, 42 Länder boykottierten, 23 nahmen aus anderen Gründen nicht teil. Ende 1979 hatten sowjetische Truppen Afghanistan besetzt. Am 12. April beschloss das NOK der USA auf immensen Druck von Präsident Jimmy Carter den Olympia-Boykott.

Revanche-Boykott 

Am 15. Mai schloss sich das deutsche NOK an, nachdem sich der Bundestag einmütig für ein Fernbleiben ausgesprochen hatte. Inzwischen ist längst quer durch alle Parteien die Einsicht gereift: Der Boykott war ein Fehler, er hat sein politisches Ziel verfehlt.

Am 8. Mai 1984 hatte das NOK der UdSSR auf Befehl des Kreml beschlossen, den Spielen von Los Angeles fernzubleiben: mit der fadenscheinigen Begründung mangelnder Sicherheit für ihre Athleten.

Die Vasallen folgten, wenn auch widerwillig. Durch den Revanche-Boykott stand Olympia am Rande des Abgrunds. Umso erstaunlicher, dass Seoul 1988 die olympische Welt fast wieder vereint war.

Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse 

Lediglich Nordkorea und sechs weitere Länder wie der Pjöngjang-Sympathisant Kuba blieben fern. Die eigentliche Wiedervereinigung wurde 1992 in Barcelona gefeiert.

Danach folgten 1996 Atlanta, 2000 Sydney und 2004 Athen politisch störungsfrei. Doch da Olympia immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und politischer Großwetterlagen ist, gibt es keine Garantien.