Doping-Kontrollsystem droht Zusammenbruch

SID

Hamburg - Der Anti-Doping-Kampf im Weltsport steht vor seiner größten Herausforderung. Der kasachische Radprofi Andrej Kascheschkin hat in seinem belgischen Wohnort Lüttich Klage auf Einhaltung der Menschenrechte eingereicht.

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Kascheschkin war beim Familienurlaub des Fremdblutdopings überführt und inzwischen von seinem Team Astana entlassen worden. Dopingtests in den Ferien würden die Menschenrechte verletzen, erklärte sein Anwalt Luc Misson, der bereits den belgischen Fußballprofi Jean-Marc Bosman im Rechtsstreit um Ablösesummen erfolgreich vertreten und 1995 das berühmte Bosman-Urteil erwirkt hat.

Am 6. November beginnt das Gerichtsverfahren. Sollte der derzeit arbeitslose Kascheschkin Recht bekommen, steht das Kontrollsystem vor dem Zusammenbruch.

Bosman lässt grüßen

"Ich gehe davon aus, dass der Fall nicht von Erfolg gekrönt ist", sagt Thomas Bach, Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), "denn wenn das Gericht die Maßnahmen im Anti-Doping-Kampf für rechtswidrig erklärt, käme das im Endeffekt einer Freigabe des Dopings gleich und das kann nicht im Sinn eines Gericht seins."

Ein leichtes Unbehagen kann aber auch der Jurist aus Tauberbischofsheim nicht leugnen. Kascheschkins Schritt könnte eine Lawine auslösen, die die weltweiten Bemühungen um sauberen Sport mit einem Schlag zunichte macht. Bosman lässt grüßen.

Kascheschkins Anwalt ist der Belgier Luc Misson, der auch den belgischen Fußball-Profi Jean-Marc Bosman im Rechtsstreit um Ablösesummen erfolgreich vertreten hat. Das berühmte Bosman-Urteil 1995 ergab, dass Spieler in der europäischen Union nach Vertragsende ablösefrei zu einem anderen Verein wechseln dürfen. Zudem kamen die im europäischen Sport bestehenden Restriktionen für Ausländer zu Fall.

Wenn nötig bis zum Europäischen Gerichtshof

"Sportliche Autoritäten sind keine staatlichen Autoritäten", erklärte Misson und kündigte gleichzeitig an, für seinen Mandanten notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen. Grundlage für Kascheschkins Schritt ist die europäische Menschenrechtskonvention. Unter Artikel 8 wird dort die Einhaltung der Privatsphäre geschützt.

Ein Richter muss jetzt klären, ob ein unangekündigter Test beim Badeurlaub dagegen verstoßen könnte. So oder so ist mit jahrelangem Prozessen zu rechnen. "Es ist klar, dass wir im Kampf gegen Doping jede Menge von den Athleten verlangen. Die Informationen, jederzeit erreichbar zu sein für Kontrollen, Blutkontrollen, mögliche DNA-Tests, dazu die Frage der Beweisgewinnung und Beweisverwertung, aber jeder Profi wählt seinen Beruf frei aus und unterwirft sich damit auch bestimmten Regularien", meint Bach.

Genau diese Regularien greift Misson an und könnte damit durchkommen. Die angewandten Maßnahmen bei Doping-Ermittlungen seien "unverhältnismässig". Die Dauerdiskussion, ob die totale Athleten-Kontrolle tatsächlich das einzige Mittel bei einer erfolgreichen Bekämpfung des Pharmabetrugs und juristisch überhaupt haltbar ist, erreicht durch die Causa Kascheschkin eine neue Dimension.

Rundumüberwachung auf dem Prüfstand

Dass die Athleten jederzeit für Dopingkontrollen zur Verfügung stehen und ihren Aufenthaltsort mehr oder weniger rund um die Uhr bekanntgeben müssen, halten Kritiker des "gläsernen Menschen" schon seit langem für einen Fehler im System.

Anwalt Michael Lehner, Repräsentant der geständigen Radprofis Jörg Jaksche und Patrick Sinkewitz, geht sogar noch weiter. Als Gegner "elektronischer Fußfesseln" sieht er "realistische Chancen, dass die von Verbänden geforderte Rundum-Überwachung von Athleten rechtlich keinen Bestand haben kann". "Ein Sport, der glaubt, Doping nur durch Rundum-Überwachung wirksam bekämpfen zu können, hat seine Existenzberechtigung verloren", betont Lehner.

Der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA) winkt allein schon ein rein logistischer Albtraum, wenn in Kürze der Vertrag mit dem Deutschen Fußball Bund (DFB) abgeschlossen wird. Gemeinsames Ziel ist es, die Trainingskontrollen zu versiebenfachen auf knapp 500 Tests pro Saison.

Kaum auszudenken, was passiert, wenn sich alle Spieler der ersten und zweiten Liga bald bei der NADA ständig abmelden und ihren Aufenthaltsort durchgeben müssten.

Einschränkung des Persönlichkeitsrechts

"Wir bekommen im Moment wöchentliche Meldungen von allen Vereinen, so dass wir genau wissen, wo die Spieler sind und das soll erstmal auch so bleiben", offenbart NADA-Sprecherin Ulrike Spitz, "beim Welt-Anti-Doping-Kongress in Madrid wird diese Thematik sicher auch diskutiert, aber klar, logistisch wäre es ein zusätzlicher Aufwand."

Der Vorschlag, dass Athleten in naher Zukunft nur noch eine Stunde pro Tag für Tests zur Verfügung stehen müssen, ist ein Gedankenmodell der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA).

Für Kascheschkins Klage kommt diese Idee wohl zu spät. "Wir sehen schon, dass die gegenwärtige Situation eine Einschränkung des Persönlichkeitsrechts ist", sagt Ulrike Spitz, "aber wir sind der Meinung, die kann auch gerechtfertigt sein, weil es um ein höheres Gut geht wie Fairness und Chancengleichheit, vor allem aber um Gesundheit." Die Sportwelt blickt gespannt nach Lüttich. Bach: "Es ist wie im Sport. Es kommt auf das Ergebnis an."