Attacke auf PSG: Warum Olympique Marseille eines der spannendsten Teams in Europa ist

Von Justin Kraft
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Olympique Marseille war einst ein großer Klub in Europa. Mittlerweile ist OM zu einem Chaosklub verkommen, der sich in den vergangenen Jahren selbst zerlegt hat. Im Sommer gab es jedoch vielversprechende Veränderungen. Gelingt der Neuanfang?

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Roberto De Zerbi hat Großes vor. Der Italiener, im Sommer von Brighton nach Frankreich gewechselt, will Olympique Marseille wieder zu einer großen Nummer in der Ligue 1 machen. "Die Menschen bei Marseille definieren OM als den wichtigsten Klub des Landes", sagte er im Interview mit Zeta: "Aber wir müssen den Enthusiasmus zurückbringen und die Dominanz von Paris Saint-Germain angreifen."

Es sind offensive, fast schon überraschende Aussagen eines Trainers, der einen Klub übernimmt, der seit 2010 nicht mehr Meister wurde. In der vergangenen Saison rutschte Marseille sogar auf den achten Platz ab, erreichte somit nicht mal das internationale Geschäft.

"Ich werde den Spielern sagen, dass wir die Fans stolz machen müssen. Marseille zu trainieren ist einzigartig, du hast Menschen hinter dir. Mit Ernsthaftigkeit und Mut werde ich versuchen, sie wieder nach Europa zu bringen", fuhr De Zerbi fort.

Einst war OM dort eine richtig große Nummer. Das erste Champions-League-Finale nach Umbenennung des Wettbewerbs gewannen die Südfranzosen 1993.

Irgendwie hat sich aus diesen Erfolgen auch ein Selbstverständnis ergeben, das bis heute nicht verschwunden ist. "Es kann nicht sein, dass Marseille nicht jedes Jahr um die Champions-League-Plätze mitspielt", schrieb der Vereinspräsident von 1993, Jean-Pierre Bernès, 2021 im Fachmagazin France Football. Ebenjener Klub spiele schließlich in der Hauptstadt des französischen Fußballs.

Faktisch ist man das längst nicht mehr. Und gerade der Spagat aus Selbstverständnis und daraus resultierender Erwartungshaltung sowie der Notwendigkeit, sich mühsam wieder etwas aufzubauen, bieten Zündstoff. Dennoch scheint Marseille in diesem Sommer vieles richtig gemacht zu haben.

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Roberto De Zerbi: Einer der spannendsten Trainer Europas

So wurde mit De Zerbi einer der spannendsten Trainer Europas verpflichtet. Einer, der bei Topklubs auf dem Zettel stand. Der FC Bayern war laut Gerüchten durchaus interessiert, wenngleich er sich letztendlich gegen konkretere Schritte entschied. Bei Brighton hat der 45-Jährige nachhaltig Eindruck in England hinterlassen. Große Trainer wie Pep Guardiola oder Jürgen Klopp sprachen in den höchsten Tönen von seiner Arbeit.

Es gibt Trainer, die sehr pragmatisch arbeiten. Erfolgsorientiert wäre hier ein positives Framing. Negativer wäre die Bezeichnung identitätslos. De Zerbi ist das komplette Gegenteil. Seine Handschrift war bei jeder seiner Stationen sehr eindeutig zu erkennen, seine Philosophie ist klar. Offensiver Fußball, hohe Aggressivität, ein ballbesitzorientierter Ansatz - das sind nur Umschreibungen des mitunter sehr komplexen und durchdachten Fußballs, den er spielen lässt.

Hier und da wurde ihm Verwissenschaftlichung vorgeworfen, auch mal Sturheit, aber eines ist klar: Wenn sich Klubs auf ihn einließen, war das Endprodukt mindestens unterhaltsam und nicht selten erfolgreich. De Zerbi ist jemand, der mit seiner Handschrift begeistern kann - seine Spieler und die Fans. Frischer Wind, den Marseille dringend benötigt hat, nachdem im letzten Jahr drei Trainer verschlissen wurden.

Olympique Marseille: Vom Chaosklub zurück an die Spitze?

Begeisterung wird auch notwendig sein, um das zu kitten, was in den vergangenen Jahren passiert ist. Ärger mit den Ultras, Stress zwischen Fans und den Verantwortlichen des Klubs - immer wieder gab es Personalwechsel und Unruhen, die ihren Anteil daran hatten, dass man über Jahre hinweg eigentlich nur auf Entwicklungen reagierte, statt sie selbst nachhaltig in die Wege zu leiten. Auf den für den sportlichen Bereich relevanten Führungspositionen gab es nahezu ständige Bewegung.

Unter diesen Umständen muss De Zerbi nun einen Weg finden, seine komplexen Ideen umzusetzen. Nach der Vorbereitung und dem Saisonstart ist die Vorfreude in Marseille aber so sehr spürbar, wie es schon lange nicht mehr der Fall war.

Denn OM scheint wieder attraktiven Fußball zu spielen. Mit 5:1 gewann man den Auftakt in der Ligue 1 gegen Stade Brest, es folgte am Sonntagabend beim 2:2 gegen Reims ein kleiner Dämpfer. In den Testspielen zuvor lief es weitestgehend gut. 84,5 Millionen Euro wurden auf dem Transfermarkt ausgegeben - kein ungewöhnlicher Wert für Marseille, das zuletzt häufig über die 100-Millionen-Euro-Grenze kam.

Interessanter am diesjährigen Transferfenster ist, dass man erstmals wieder gezielter eingekauft hat. In den vergangenen Jahren gab es stets sehr viele Abgänge und sehr viele Zugänge. Diesmal scheint man sich enger mit dem Trainer und dessen Ideen auseinandergesetzt zu haben.

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Olympique Marseille: Smarte Transfers - und ein Streitfall

Ein gutes Beispiel ist Elye Wahi. Der 21-Jährige kam für 25 Millionen Euro vom RC Lens. Mit zwölf Toren und vier Assists spielte er keine außergewöhnliche Saison, die ihn zum absoluten Toptalent der Liga machen würde. Aber als Spielertyp passt er sehr gut zu De Zerbi.

Denn einerseits verfügt Wahi über einen starken Abschluss und ist flexibel in der Offensive einsetzbar, andererseits ist er kombinationsstark und weiß sich aktiv am Spiel zu beteiligen. Für den Kombinationsfußball des neuen Trainers ist das eine wichtige Eigenschaft.

Im Mittelfeld hat Marseille ebenfalls clever eingekauft. Ismaël Koné ist ein sehr dribbelstarker, aktiver und kombinationssicherer Achter, der dem Spiel unter De Zerbi viele Facetten verleihen kann. Pierre-Emile Höjbjerg, der einst unter anderem beim FC Bayern spielte und von Tottenham ausgeliehen wurde, bringt indes Erfahrung und Aufbauqualitäten für die Sechserposition mit. Allein durch diese beiden Transfers hat sich die technische Qualität im Mittelfeld vervielfacht.

Generell ist durch die Bank weg bei allen Neuzugängen zu erkennen, dass der Fokus darauf lag, die Entscheidungsfindung des Teams in Ballbesitz zu stärken. Der Spielaufbau ist das Herzstück von De Zerbis Fußball. Den Gegner ins Pressing zu locken birgt ein großes Risiko, wenn man unter Druck keine guten Entscheidungen trifft und den Ball zu leicht verliert.

Ist der Gegner aber aufgerückt und man überspielt ihn, hilft Tempo in der Offensive. Neben Wahi ist Mason Greenwood hier ein aus sportlicher Sicht der wichtigste Neuzugang. Gegen Brest zeigte er mit einem Doppelpack, wofür er geholt wurde. Auch gegen Reims war er erfolgreich. Zur Geschichte gehört aber auch, dass er der große Unruheherd des Sommers ist. Der 22-Jährige wurde bei Manchester United wegen des Vorwurfs der versuchten Vergewaltigung, vorsätzlicher Körperverletzung und Nötigung suspendiert.

Zwar wurde das Strafverfahren 2023 eingestellt, doch eine transparente und den Vorwürfen angemessene Aufklärung fand nie statt. Selbst der Bürgermeister von Marseille äußerte sich zu diesem Transfer. "Ich möchte nicht, dass mein Klub mit Schande bedeckt wird", erklärte Benoit Payan bei RMC. Auch bei den Fans sorgte der Transfer für Spaltung.

Klar ist auch: Liefert Greenwood weiter Leistungen, wird all das in den Hintergrund rücken. Aber sollte der Erfolg ausbleiben, droht hier Explosionsgefahr.

Olympique Marseille: Ein weiter Weg nach oben

Und irgendwie lässt sich an der Personalie Greenwood dann doch ganz gut zeigen, wo Marseille aktuell steht. Ein Klub, der gefühlt nur wenige Schritte von allen Extremen entfernt ist. Denn so gut das Gefühl in der französischen Metropole im Moment auch ist, so unklar ist, wie nachhaltig die ersten Schritte sind.

Was passiert, wenn die erste sportliche Krise kommt? Wie sicher sitzen die Personen in ihren Ämtern, die den sportlichen Neustart stemmen sollen? Wie reagiert De Zerbi, wenn die Dinge nicht so laufen, wie er es sich vorstellt? Bei Brighton und auch bei anderen Stationen galt er nicht gerade als einfach im Umgang.

Um wieder der wichtigste Klub des französischen Fußballs zu werden, müssen noch viele Zahnräder ineinandergreifen. Die ersten Schritte sehen gut aus, aber die nächsten werden ungleich schwerer. Dennoch hat Marseille das Potenzial, einer der interessantesten Klubs dieser Saison zu werden.

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