14 Tore schoss Frankreich auf dem Weg zum WM-Titel 2018. Kein einziges davon erzielte Mittelstürmer Olivier Giroud. Spätestens da war klar, dass es im sogenannten modernen Fußball keine treffsichere Neun mehr braucht, um große, ja sogar größtmögliche Erfolge wie einen WM-Titel zu erringen. Es braucht Systeme, die zu Toren führen. Und selbstverständlich auch Spieler, die sie schießen - aber darum muss sich nicht mehr zwangsläufig der Mittelstürmer kümmern.
Vielen Fans erscheint diese Tatsache unverständlich, ja fast schon ungeheuerlich. Ganz besonders Deutschen! Wer will es ihnen verdenken, sie wurden schließlich in einem echten Neuner-Land fußballerisch sozialisiert. Gerd Müller, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann, Miroslav Klose: Vom Bomber der Nation bis Il Bomber hatte Deutschland stets treffsichere Mittelstürmer, die mit ihren Toren für allerhand Titel sorgten.
Mit Niclas Füllkrug verfügt das DFB-Team zwar auch bei dieser Heim-EM über einen torgefährlichen Mittelstürmer klassischer Prägung. In 20 Länderspielen - oft mit nur kurzen Einsatzzeiten - gelangen ihm 13 Tore. Eine starke Quote. Doch entgegen aller Forderungen von Fans und gerne auch Experten, die einst mit echten Mittelstürmern spielten und siegten, ist Füllkrug nur Reservist. Stattdessen spielt unter Bundestrainer Julian Nagelsmann immer Kai Havertz, gelernter Mittelfeldspieler mit schlechterer Torquote.
Gewissermaßen ist Havertz bei dieser EM der deutsche Giroud. Deutschland spielt zwar anders als Frankreich 2018 und Havertz ist auch ein anderer Spielertyp als Giroud, ein spielfreudiger Schlaks und kein wuchtiger Brecher wie der Franzose. Die beiden eint aber, dass sie als Mittelstürmer auch ohne Tore aus dem Spiel heraus und ungeachtet chronischer Unterschätzung wichtige Rollen in erfolgreichen Mannschaften spielen können.
Kai Havertz bei der EM: Zwei Elfmetertore, viele vergebene Chancen
Während Giroud 2018 überhaut gar nicht traf, markierte Havertz bei dieser EM immerhin bereits zwei Treffer. Beide jedoch per Elfmeter. Nur per Elfmeter, wie mancher einwerfen würde. Übrigens treffen auch die Stamm-Mittelstürmer der anderen Titelkandidaten noch nicht verlässlich: Spaniens Alvaro Morata und Frankreichs Kylian Mbappé stehen bei einem Tor, Englands Harry Kane immerhin bei zwei und Portugals Cristiano Ronaldo netzte noch gar nicht - nicht einmal per Elfmeter.
Havertz verwandelte dagegen vom Punkt zur Ergebniskosmetik beim 5:1-Auftaktsieg gegen Schottland und zur so wichtigen Führung beim Achtelfinal-Sieg gegen Dänemark, der das Duell mit Spanien im Viertelfinale ermöglichte. "Außergewöhnlich" nannte Deutschlands Keeper Manuel Neuer Havertz' Qualitäten bei Elfmetern. "Das ist sehr schwer mit dieser Verzögerung beim Anlauf und dieser Präzision im Abschluss." Aus dem Spiel heraus ließ Havertz diese Präzision gegen Dänemark jedoch trotz bester Gelegenheiten erneut vermissen, gleich vier herausragende Chancen vergab er.
Ja, Havertz hätte mindestens ein Tor machen müssen. Generell spricht es aber für ihn, dass er überhaupt in diese gefährlichen Situationen gekommen ist. Beispielsweise in der 59. Minute, als er zunächst zwei Gegenspieler aussteigen ließ, um dann mit einem sehenswerten Chip ganz knapp zu scheitern. Oder in der 10. bei einer anspruchsvollen Direktabnahme. Wiederholt setzte Havertz auch seine Mitspieler stark in Szene, etwa Leroy Sané bei dessen Topchance in Minute 64.
DFB-Team: Julian Nagelsmann erklärt die Rolle von Kai Havertz
Mit seiner technischen Klasse, seinem Freilaufverhalten und seiner Übersicht ist Havertz ein dankbarer Kombinationspartner für die Zauberer hinter ihm, für Sané, Jamal Musiala, Ilkay Gündogan oder Florian Wirtz. Wichtig fürs deutsche Angriffsspiel ist Havertz zudem wegen seiner Bewegungen ohne Ball. Aspekte, die Füllkrug deutlich weniger bieten kann.
"Kai hat einen klaren Job, der damit einhergeht, dass er nicht viele Ballaktionen hat, weil er Raum für andere kreieren sollte. Das hat er herausragend gut gemacht", sagte Nagelsmann schon vor dem Dänemark-Spiel. "Es geht für einen Stürmer nicht immer nur darum, ein Tor zu machen."
In der öffentlichen Wahrnehmung werden Stürmer aber oftmals genau darauf reduziert. Schon im Vorfeld der EM wüteten in Deutschland intensive Debatten über die Besetzung der Sturmspitze. Mit seinem Elfmetertor gegen Schottland ließ Havertz seine Kritiker zunächst verstummen, ehe sie nach zwei torlosen Auftritten vor dem Achtelfinale zu Höchstform aufliefen - zumal Füllkrug im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz nach seiner Einwechslung zum vielumjubelten Ausgleich getroffen hatte.
Nagelsmann ließ sich aber nicht beirren und setzte auch in Füllkrugs Dortmunder Heim-Stadion auf die etablierte Rollenverteilung. Sinnvoll ist sie nicht nur wegen Havertz' Wichtigkeit für das deutsche Spiel, sondern auch wegen Füllkrugs Joker-Qualitäten. Mit vier Treffern ist er Deutschlands erfolgreichster Joker bei großen Turnieren. Dank dieser Quote und seiner ganz besonderen Art emotionalisiert Fan-Liebling Füllkrug mit Einwechslungen Stadien, wie es der eher reserviert wirkende Havertz nie könnte.
Kai Havertz und die fehlende Wertschätzung für deutsche Legionäre
Genau wie die aktuell fehlenden Tore aus dem Spiel heraus, wird Havertz gerne auch seine vermeintlich abwesende Körpersprache schlecht ausgelegt, ein weiteres Problem ist sein Arbeitsplatz. Er befindet sich nämlich im Ausland. Legionäre erfahren in der deutschen Fußball-Öffentlichkeit traditionell nicht die Wertschätzung, die sie eigentlich verdienen. So war es einst bei Mesut Özil, später beim erst nach sechs Champions-League-Titeln gerade doch noch akzeptierten Querpass-Toni Kroos und nun eben bei Havertz.
Zur Erinnerung: Havertz gewann mit dem FC Chelsea 2021 ebenfalls schon die Königsklasse, tatsächlich schoss er im Finale sogar das entscheidende Tor. Vergangenen Sommer wechselte er für 75 Millionen Euro zum FC Arsenal. Im Herbst noch meist im Mittelfeld eingesetzt, fungierte er in der Rückrunde auch beim englischen Vizemeister als Mittelstürmer und schoss immerhin 14 Tore.
Wie für die Nationalmannschaft ist Havertz aber auch für Arsenals Spiel wichtiger, als es die reine Trefferanzahl vermuten lassen würde. Mit 91 Toren stellten die Gunners in der abgelaufenen Saison knapp hinter Meister Manchester City die zweitbeste Offensive der Premier League. Mit zehn Toren stellt Deutschland bis dato die beste Offensive der EM. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Mittelstürmer bei beiden Mannschaften Kai Havertz heißt.