Ganz am Ende, tief in der Nachspielzeit, durfte sogar noch die aktuell traurigste Figur des FC Bayern München jubeln: Leon Goretzka. Der langjährige Stamm- und Nationalspieler sollte im Sommer bekanntlich verkauft werden, entschied sich aber für einen Verbleib. Unter dem neuen Trainer Vincent Kompany kämpft er seitdem nicht mehr um einen Platz in der Startelf, sondern um einen im Kader. Bei zwei der vier ersten Pflichtspiele verlor er diesen Kampf und saß nur auf der Tribüne.
Wie alle Beteiligten versichern, verbreitet Goretzka trotz seiner misslichen Situation keine schlechte Stimmung und trainiert ganz wunderbar. Also belohnte ihn Trainer Vincent Kompany gegen Dinamo Zagreb mit einer Einwechslung kurz vor Schluss beim Stand von 8:2 - und Goretzka brauchte nicht lange, um das abschließende 9:2 zu erzielen. "Er ist wichtig für uns und beliebt in der Mannschaft", lobte der Trainer anschließend. "Es gibt keine Möglichkeit, in die Mannschaft reinzukommen, wenn man nicht alles dafür tut. Er macht das gut."
Durchaus rührend zu sehen war es auch, wie sehr sich Goretzkas Kollegen für ihn freuten. Mit Aleksandar Pavlovic, seinem direkten Rivalen im defensiven Mittelfeld, führte er sogar einen offenbar vorher einstudierten Jubel auf. Lachend lieferten sich die beiden ein Duell im Schattenboxen. "Das ist ein Insider", erklärte Pavlovic anschließend und verriet, dass es sich um die Imitation eines Tiktok-Trend namens "Talahon" handelte. "Da boxen die auch."
Zu hohe Belastung: Fans und Spieler protestieren gegen Champions-League-Reform
Gewissermaßen symbolisiert diese TikTok-Imitation eine große Stärke des FC Bayern in der Frühphase der Ära Vincent Kompany. Die Münchner verfügen einerseits über einen auch in der Tiefe qualitativ hochwertigen Kader - die Folge davon, dass im Sommer weniger Spieler verkauft wurden als geplant (siehe beispielsweise Goretzka). Und mit Kompany andererseits über einen Trainer, der diesen Kader bei Laune hält und äußerst gewinnbringend einzusetzen weiß.
"Er managt das sehr, sehr gut", lobte Sportvorstand Max Eberl. "Er nimmt den ganzen Kader mit und nutzt die ganze Breite des Kaders, die wir am langen Ende der Saison brauchen werden." Joshua Kimmich ergänzte: "Es wird wichtig sein, dass wir viele Spieler haben, die sich wichtig fühlen. Bei diesem Rhythmus brauchen wir alle."
Tatsächlich war ein auch in der Tiefe funktionierender Kader noch nie so wichtig wie in dieser Saison. Durch die Champions-League-Reform erhöhte sich die Anzahl an Pflichtspielen noch einmal - zum Missfallen von so ziemlich allen Betroffenen. Die Fans des FC Bayern protestierten vor dem Dinamo-Spiel gegen den neuen Modus, auf Spruchbändern stand beispielsweise "zu viele Spiele" oder "zu viel Belastung". Auch etliche berühmte Spieler und Trainer beklagten sich in den vergangenen Tagen wortgewaltig, Manchester Citys Rodri drohte sogar mit Streik. Bei Überbelastungen sind Verletzungen fast schon vorprogrammiert.
Zurückdrehen lässt sich das unermüdliche Belastungs-Rad aber erstmal nicht. Also gilt es Lösungen zu finden - und die findet Kompany mit seinen intensiven Rotationen verschiedenster Arten.
FC Bayern München: Die Zahlen hinter Vincent Kompanys Rotation
Unter Kompany lief der FC Bayern noch nie zweimal hintereinander mit der gleichen Startelf auf, stattdessen vollzog der neue Trainer zwischen den bisherigen Spielen vier, zwei, drei und nochmal drei Wechsel - und gewann dennoch alle, die letzten beiden sogar spektakulär mit 6:1 und 9:2. Insgesamt kamen in den fünf Pflichtspielen unter Kompany 22 verschiedene Spieler zum Einsatz, von denen 17 sogar schon in der Startelf standen und 13 mindestens einen Scorerpunkt sammelten.
Der 22. eingesetzte Spieler dieser Saison war übrigens Leroy Sané. Nach seinen langwierigen Schambeinproblemen samt Operation feierte er gegen Dinamo per Einwechslung sein Comeback und erzielte prompt ein Tor.
Kompany setzt aber nicht nur viele verschiedene Spieler ein, sondern testet sie auch auf verschiedenen Positionen. Raphael Guerreiro - normalerweise links hinten oder im Mittelfeld beheimatet - gab nach der Verletzung von Sacha Boey gegen Dinamo beispielsweise einen Rechtsverteidiger. Nach vorne setzte Guerreiro auf der ungewohnten Position gute Akzente, im Rückwärtsgang präsentierte er sich dagegen etwas wackelig. Serge Gnabry kam bereits über beide Flügel, Michael Olise über rechts sowie das Zentrum und Joshua Kimmich rochiert sogar während Spielen zwischen Mittelfeld und Abwehr.
So viele Rotationen gab es beim FC Bayern letztmals wahrscheinlich unter Ottmar Hitzfeld. Die Trainer-Ikone führte den FC Bayern 2001 zum Champions-League-Titel und gilt als einer der Urväter der Rotation. Zu seinen Zeiten wurde dieses aktuell äußerst probate Mittel aber noch etwas kritischer beäugt. Als es Hitzfeld mal wieder ordentlich rotieren ließ, schimpfte der Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge in Richtung des ehemaligen Lehrers: "Fußball ist keine Mathematik."