Eine neue "Holding Six" wünschte sich Trainer Thomas Tuchel vergangene Saison bekanntlich ganz sehnsüchtig für seinen FC Bayern München. Der englische Begriff für die Position im defensiven Mittelfeld passte hervorragend zur auserkorenen Zielgruppe: Spieler aus der Premier League.
Wunschkandidat Declan Rice von West Ham United wechselte lieber zum FC Arsenal. Fulhams João Palhinha war Ende August sogar schon in München, ehe sich sein Transfer doch noch zerschlug. Später bestand Interesse an Evertons Amadou Onana und Adam Wharton von Crystal Palace. Unbedingt sollte es offenbar eine Holding Six 'made in England' sein.
Bis zu seinem Abschied am Saisonende ging Tuchels Wunsch nicht mehr in Erfüllung. Sein Nachfolger Vincent Kompany bekam schließlich Palhinha im zweiten Anlauf. Damit setzte sich ein interessanter Transfer-Trend der Münchner fort. Bei ihrer Suche nach Neuzugängen fokussierten sie sich in den vergangenen Jahren immer stärker auf die Premier League.
Michael Olise und João Palhinha folgten auf Harry Kane und Eric Dier
2022 kam Sadio Mané vom FC Liverpool. 2023 erst João Cancelo von Manchester City, dann Harry Kane für 100 Millionen Euro von Tottenham Hotspur. Ein halbes Jahr später folgte Eric Dier seinem ehemaligen Teamkollegen. Nun verpflichtete der FC Bayern zunächst Michael Olise für 53 Millionen Euro von Crystal Palace und kurz darauf eben Fulhams Palhinha für 51 Millionen. Vergangenen Sommer bestand, abgesehen von den übrigen Holding Sixern, zudem konkretes Interesse an Manchester Citys Kyle Walker, zuletzt wurde auch Bruno Fernandes vom Stadtrivalen United gehandelt.
Jahrzehntelang verzichtete der FC Bayern aus Kostengründen ziemlich konsequent auf Transfers aus der Premier League. Plötzlich ist alles anders. Wie kam es zu dieser Kehrtwende? Ein guter Ansprechpartner bei dieser Frage ist Michael Reschke. Kenner des internationalen Transfermarkts, von 2014 bis 2017 als Technischer Direktor selbst für den FC Bayern tätig, mittlerweile bei der großen Berateragentur Stellar.
"Der FC Bayern hat bei seiner Einkaufspolitik einen Fokus auf Spieler, die ihre Klasse schon nachgewiesen haben", sagt Reschke im Gespräch mit SPOX. "Die Premier League ist aktuell die stärkste Liga der Welt. Bei einem Spieler, der sich in der Premier League durchgesetzt hat - wie Palhinha oder Olise -, hast du die Sicherheit, dass er auch in der Bundesliga funktioniert. Das ist ein offenes Buch, hat aber auch seinen Preis. Deshalb verlangen Klubs aus der Premier League höhere Ablösesummen als alle anderen." Anders als früher ist der FC Bayern mittlerweile bereit, diese Preise zu bezahlen.
Warum sich der FC Bayern plötzlich vermehrt in der Premier League bedient
Erstmals wechselte 1989 ein Spieler direkt aus England nach München. Aston Villas Alan McInally setzte sich aber nicht nachhaltig durch. Es folgten Jürgen Klinsmann (1995 von Tottenham) und Jerome Boateng (2011 von Manchester City). Sie gehen als Sonderfälle durch, strebten sie doch jeweils eine Rückkehr in die deutsche Heimat an. Gewissermaßen ein Sonderfall war auch Pepe Reina, der Ersatzkeeper kam 2014 zwar vom FC Liverpool, jedoch direkt nach einer Leihe zur SSC Neapel.
Reschke habe während seiner drei Jahre in München "mehrmals für Bayern in England Spieler beobachtet", erinnert er sich: "Aber wir sind bei keinem zur Überzeugung gekommen, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Damals waren etwa 40 Millionen Euro eine Art Schallmauer." 41,5 Millionen zahlte der FC Bayern 2017 für Corentin Tolisso an Olympique Lyon und machte ihn damit zum Rekordtransfer. "In höhere Ablöse-Regionen sind wir nicht hineingegangen. Insofern waren Top-Spieler aus der Premier League für uns unrealistisch." Seitdem änderten sich zwei Faktoren.
Einerseits legte die bereits damals dominante Premier League qualitativ noch einmal signifikant zu, weil auch Mittelfeld-Klubs wie etwa Fulham oder Crystal Palace Top-Spieler horten. "Während meiner Zeit bei Bayern war die Premier League in der Spitze und Breite noch nicht so stark wie jetzt. Die Top-Spieler waren mehr über Europa verteilt. Dennoch waren die Ablösesummen in der Premier League damals schon deutlich höher als überall sonst", erklärt Reschke. Heißt: Spieler aus England sind zwar immer noch teuer, wegen des ausgeglichenen Top-Niveaus sind diese hohen Preise mittlerweile aber eher zu rechtfertigen als früher. Das Buch ist offener, die Einschlag-Sicherheit größer denn je - auch bei Spielern von Mittelfeld-Klubs. Das ist der eine Faktor.
Andererseits wurde der FC Bayern auf dem Transfermarkt generell mutiger und ist aktuell auch mal bereit, beim Wettbieten mitzumachen und entsprechend hohe Summen tatsächlich zu bezahlen. Startschuss dieser Entwicklung war die Verpflichtung von Lucas Hernández. Er kam 2019 für 80 Millionen Euro und einen hochdotierten Vertrag von Atlético Madrid. Damit verdoppelten die Münchner ihren bisherigen Tolisso-Transferrekord und sprengten außerdem das bis dahin vorherrschende Gehaltsgefüge.
FC Bayern München: Neuzugänge aus dem Ausland
Zeitraum | England | Spanien | Italien | Frankreich | Sonstige |
2005 bis 2009 | - | 1 | 2 | 1 | 7 |
2010 bis 2014 | 2 | 4 | 2 | - | 3 |
2015 bis 2019 | - | 4 | 3 | 1 | 4 |
2020 bis heute | 8 | 2 | 3 | 4 | 6 |
FC Bayern holt Olise und Palhinha: "Nicht wegen Kompany getätigt"
Unter diesen neuen Voraussetzungen rückten plötzlich Spieler aus der Premier League in den Münchner Fokus: 2020 kam für 49 Millionen Euro Leroy Sané von Manchester City. 2022 Sadio Mané vom FC Liverpool, bei dem weniger die Ablöse von 32 Millionen Euro, sondern eher das Gehalt massiv zu Buche schlug. Seit 2023 gibt es, angeführt von 100-Millionen-Mann Harry Kane, einen steten Spieler-Fluss von England nach München. Abgesehen von Mané und dem aus der zweiten Liga verpflichteten Omar Richards erwiesen sich alle als Verstärkungen.
Auffällig ist, dass sich der FC Bayern immer häufiger nicht nur auf dem englischen Spieler-, sondern auch auf dem Trainermarkt umschaut. Tuchel war vor seinem Wechsel nach München beim FC Chelsea tätig, Kompany beim Absteiger FC Burnley. Auch Aston Villas Unai Emery und Oliver Glasner von Crystal Palace galten als Kandidaten.
Einen direkten Zusammenhang zwischen der Vergangenheit der jeweiligen Trainer und der Zunahme an Spieler-Transfers aus England sieht Reschke unterdessen nicht. "Bei Bayern bestimmt der Verein die Transfers. Das war bei Tuchel so und ist bei Kompany nicht anders", erklärt er. "Diese England-Transfers wurden sicher mit Kompany abgesprochen, sie wurden aber nicht wegen ihm getätigt." Meistens überleben die Spieler in München ihre Trainer ohnehin.