"Denkt doch mal an Polen!"

Von Florian Regelmann
Bundestrainer Heiner Brand liebt in seinen Auszeiten klare Ansagen
© Getty

Wer als Neuling in die Nationalmannschaft kommt, erhält von Bundestrainer Heiner Brand als erstes die Taktik-Bibel. Was dort genau drinsteht und wie es dem deutschen Team in Österreich auf dem Weg zum EM-Titel helfen kann? SPOX und Ex-DHB-Superhirn Markus Baur klären auf. (EM-Auftakt gegen Polen, Di., 18.15 Uhr im LIVE-TICKER)

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Heiner Brand hat die Grüne Karte schon seit Minuten in der Hand und tigert an der Seitenlinie auf und ab. Es passt ihm gar nicht, was seine Jungs im Testspiel gegen Island im Angriff zum Besten geben. Bälle werden weggeworfen, wilde Würfe werden genommen, von einem klaren System ist nichts zu sehen. Und das wenige Wochen vor der EM in Österreich. Er nimmt die Auszeit.

Brand redet in seiner typischen Manier mit deutlichen, klar verständlichen Worten auf sein Team ein. Seine Haupt-Botschaft: "Denkt doch mal an Polen!"

Es ist nicht das erste Mal, dass der Fernseh-Zuschauer bei einer Übertragung eines Spiels der deutschen Handball-Nationalmannschaft bei einem Timeout von "Polen" hört. Aber was ist eigentlich dieses "Polen"?

Das Ziel: Schwung aus dem Rückraum

"Polen ist ganz einfach der Name für einen Spielzug oder eine Auslösehandlung, wie wir es nennen. Wie bei allen Spielzügen geht es darum, die gegnerische Abwehr in Bewegung zu bringen. Es soll durch einen Übergang Unruhe im Zentrum hergestellt werden, sodass die Rückraumspieler mit Schwung in eine gute Wurfposition kommen können", erklärt Markus Baur im Gespräch mit SPOX.

Der ehemalige Nationalmannschafts-Kapitän kennt "Polen" und alle anderen Spielzüge der DHB-Auswahl wie kein anderer. Jahrelang war er als Spielmacher Brands verlängerter Arm auf dem Spielfeld und könnte alle taktischen Varianten noch heute im Schlaf durchspielen.

Seit einigen Jahren sind die Spielzüge, pardon, Auslösehandlungen beim DHB in Bild und Schrift festgehalten. Manchmal reichen, je nach Spielgefühl eines Spielers, fünf Minuten, um ein System zu begreifen. Manchmal merkt man erst im Training, dass sich eine Idee, die am Reißbrett noch vielversprechend aussah, in der Praxis gar nicht umsetzen lässt.

Polen ist viel simpler als Dortmund

Nicht so bei "Polen", das einmal bei einem Qualifikationsspiel - sinnigerweise in Polen - entstanden ist. Nachdem sich die deutsche Mannschaft gegen die 3-2-1-Deckung der Gastgeber sehr schwer getan hatte, kam während des Spiels die Idee auf, es doch mal mit einem neuen Spielzug zu probieren. Das Resultat waren jede Menge Tore. "Polen" war geboren.

Während andere Favoriten aus dem Playbook, wie zum Beispiel "Dortmund", "Halle", oder "Lanza" (Lanzarote) deutlich komplexere Abläufe und das Mitwirken aller Spieler erfordern, ist "Polen" recht einfach gehalten. Auch deshalb verweist Brand in kritischen Situationen derart häufig darauf.

"Wenn man eine Auszeit nimmt, hat man ja in der Regel gemerkt, dass es irgendwo hakt. Da kann man dann keine komplizierten Sachen ansprechen - bei zu viel Information kommt wenig an. Einfache Ansagen müssen her. Und im Falle von Polen brauchst du einen einzigen Pass, wenn es richtig gemacht wird. Ein ganz simples Ding", sagt Baur.

Wohingegen in früheren Zeiten oftmals auch Spieler, in erster Linie Baur, in Auszeiten das Wort ergriffen, spricht nun nur noch der Bundestrainer. Ein Zeugnis mangelnder Führungsspieler?

Mimi Kraus steht unter Druck

"Ich denke, dass es zeigt, dass Heiner Brand gemerkt hat, dass die Jungs noch nicht so weit sind, um selbst die richtigen Lösungen zu finden. Das hat natürlich viel mit Erfahrung zu tun. Zu Zeiten meiner Generation mit Daniel Stephan, Christian Schwarzer und Volker Zerbe war die Lage eine andere. Im Moment muss sich der Bundestrainer wieder mehr in die Verantwortung nehmen und die Dinge mehr steuern", meint Baur.

Klar ist, dass es die Aufgabe des Mittelmanns ist, das Team zu lenken. Michael Kraus ist in Sachen "Leader-Qualitäten" sicher viel weiter, als er es vor ein paar Jahren noch war. Wie weit der deutsche Kapitän aber wirklich ist, wird die EM in Österreich zeigen.

Wurde früher viel mehr im Kollektiv gearbeitet, steht heute die individuelle Stärke im Vordergrund. Ein Spielzug mit zehn oder noch mehr Pässen kommt im heutigen Handball praktisch nicht mehr zustande, weil viele Spieler die Power haben, schon nach dem zweiten Pass das Tor zu machen.

Spieler wie Mimi Kraus. Niemand im deutschen Team verkörpert individuelle Stärke mehr als er. Wenn Kraus mit seiner Explosivität und Dynamik auf eine Abwehr zugeht, ist er im Normalfall nicht zu halten.

Fehlen von Hens ändert am System nichts

Kraus muss die Systeme einerseits diszipliniert durchspielen, aber andererseits auch die Improvisationsfreiheiten richtig nutzen. Passe ich den Ball weiter? Spiele ich den finalen Pass? Oder suche ich den Abschluss?

Dass das Fehlen von Pascal Hens einen großen Einfluss auf die Taktik im deutschen Spiel haben wird, glaubt Baur indes nicht: "Pommes und Lars Kaufmann sind beide wurfgewaltige Shooter. Pommes ist darüber hinaus in der Lage, auch jeden Pass zu spielen, das ist bei Lars nicht in dem Maße der Fall, wobei er auch gute Pässe spielen kann. Da wird es keine großen Unterschiede geben. 'Polen links' funktioniert genauso gut für Lars Kaufmann wie 'Polen rechts' für Holger Glandorf."

Wann gegen wen? Der EM-Spielplan im Überblick

Vergleicht man die Systeme der Top-Nationen, fällt auf, dass alle grundsätzlich auf einer guten Abwehr basieren. Sei es die 6-0-Abwehr der Deutschen und Dänen, oder die teils faszinierende 3-2-1-Abwehr der Kroaten.

Im Angriff sieht die Sache dagegen anders aus. Nur Titelverteidiger Dänemark ähnelt hier mit seiner mannschaftlichen Geschlossenheit stark dem deutschen Team. Bei Kroatien lautet die offensive Erfolgsformel, sofern Ivano Balic auf dem Parkett steht, meistens so: "Balic fängt den Spielzug an, gewinnt seinen Zweikampf, die anderen laufen in die richtige Richtung, bekommen den Ball und werfen ihn rein..."

Die "einfache" Taktik der Franzosen

Bei Frankreich ist die Taktik fast genauso einfach. "Die taktische Besonderheit der Franzosen ist, dass sie die beste Abwehr der Welt haben. Mit einem überragenden Torwart dahinter. Du kannst immer davon ausgehen, dass sie pro Spiel fünf oder sechs Gegenstoßtore machen - das ist schon mal ganz bitter, weil du gegen ihre Abwehr solche Probleme hast. Und dann kommen sie ganz extrem über ihre individuelle Stärke. Das heißt nicht, dass sie keine Taktik haben. Die haben sie schon, aber eine sehr einfache", meint Baur voller Anerkennung.

Kurzum: Wenn ich auf vielen Positionen die besten Spieler der Welt in meinen Reihen habe, muss ich als Trainer nicht viel mehr tun, als diese Spieler einfach machen lassen. Denn sie werden aus dem Spiel heraus fast immer die richtige Entscheidung treffen.

Dennoch ist Frankreich nicht unbezwingbar. Wenn der Torwart hält, was er normal nicht hält. Wenn man sie in der Abwehr in die Seitwärtsbewegung bringt. Wenn man auch das nötige Ballglück hat.

Während sich der Handball-Fan in der Bundesliga an Torfestivals gewöhnt hat, kann er sich unter Umständen bei der EM wieder auf ein paar Defensiv-Klassiker freuen. 17:17. 19:19. Das hat es zwischen Deutschland und Frankreich alles schon gegeben. Das Tempo wird deutlich niedriger sein als in der Liga - wer in zwölf Tagen acht Spiele machen muss, kann nicht in jedem Angriff "schnelle Mitte" spielen.

Surprise, surprise

Baur erwartet viele enge Spiele, mit völlig offenem Ausgang. Er weiß aus Erfahrung, dass es am Ende ein Spielzug sein kann, den man das ganze Turnier noch nicht gespielt hat, der über Sieg und Niederlage entscheidet.

"Ich erinnere mich an unser WM-Finale in Portugal gegen Kroatien. Kretzsche und Zerbe waren verletzt, wir haben uns extrem schwer getan. Aber dann haben wir plötzlich etwas gespielt, was wir seit Ewigkeiten nicht mehr gespielt hatten, und die Kroaten haben fünf Minuten nicht gewusst, was sie dagegen machen sollen. Oder der Kempa-Trick von Dominik Klein beim WM-Halbfinale 2007 gegen Frankreich in der Verlängerung. Manchmal genügt eine Absprache zwischen zwei Leuten", erzählt Baur.

Angesichts der gängigen Video-Analysen und der Vertrautheit mit allen Gegnern muss Heiner Brand vielleicht mal wieder ganz tief im Playbook kramen, wenn es mit einer Medaille klappen soll. Und im Notfall heißt es in der Auszeit einfach wieder: "Denkt doch mal an Polen!"

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