Die letzte Instanz der Fußballromantik

Der SV Darmstadt 98 hat seit Anfang Oktober kein Heimspiel mehr verloren
© getty

Der SV Darmstadt 98 ist das Überraschungsteam der 2. Liga. Sechs Spieltage vor Schluss liegt die Truppe von Dirk Schuster sensationell auf Platz zwei. Dies gelang den Südhessen dank einer eingespielten Mannschaft und der Besinnung auf simple Mittel - in vielerlei Hinsicht.

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Die Bundesligasaison 1981/1982: Der Hamburger SV wird Deutscher Meister, der SV Darmstadt 98 steigt aus der höchsten deutschen Spielklasse ab und verschwindet zehn Jahre später beinahe vollständig in der Versenkung.

Die Bundesligasaison 2014/2015: Dem HSV droht der Sturz in die Zweitklassigkeit, die Lilien stehen vor ihrer Rückkehr in die Beletage. Darmstadt ist derzeit die vielleicht größte Überraschung im deutschen Fußball - an der vor allem die Verpflichtung von Trainer Dirk Schuster vor gut zwei Jahren großen Anteil hat.

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Bevor Schuster kam, tingelte der Verein durch die Regionalliga Süd, 1999 stieg man sogar in die Oberliga Hessen ab. Im Mai 2013 drohte der abermalige Abstieg in die Amateurklasse, Darmstadt hätte in die Regionalliga gemusst. Doch ausgerechnet der Lizenzentzug der verhassten Offenbacher Kickers rettete Darmstadt. Nur ein Jahr später folgte das legendäre Relegations-Rückspiel auf der Bielefelder Alm - der SVD war zurück in Liga zwei.

"Aufstieg in der Kabine kein Thema"

Dort ging das Märchen bislang unverändert weiter. Darmstadt steht sieben Spieltage vor Schluss sensationell auf Platz drei. Drei Punkte beträgt der Vorsprung auf den Karlsruher SC. Der Durchmarsch scheint längst alles andere als ausgeschlossen.

"Wir sprechen eigentlich gar nicht über den Aufstieg. Klar, wir fühlen uns dort oben natürlich wohl, aber in der Kabine ist der Aufstieg kein Thema. Dafür wissen wir um die Qualität der Konkurrenten. Wenn wir einen Spieltag vor Schluss immer noch dort oben stehen, können wir uns darüber unterhalten. Wir wissen aber: Es kann ganz schnell in eine andere Richtung gehen", sagt Stürmer Marco Sailer zu SPOX.

Bislang tat es dies aber noch nicht, auch wenn die Lilien, die einen Mini-Etat von 5,8 Millionen Euro zur Verfügung haben, keine spielerischen Glanzleistungen aufs Parkett zaubern. Doch dies war bereits im Vorjahr in der 3. Liga nicht der Fall. Schusters Team, das er seit seiner Ankunft im Dezember 2012 formte, definiert sich als echte Mannschaft. Hier scheint das Ideal der elf Freunde noch gelebt zu werden.

Enorm eingespieltes Team

Das zeigt sich auch außerhalb des Platzes. Wer durch Darmstadt geht, sollte sich nicht wundern, wenn ihm beispielsweise beim Abendessen ein paar Lilien-Profis gegenüber sitzen. "Wir haben ein tolles Mannschaftsgefüge, einen tollen Teamgeist und unternehmen in der Regel auch privat einiges miteinander. Ich denke, das kann man am Wochenende auch sehen und holt auf dem Platz nochmal ein paar Prozentpunkte raus", sagt Sailer.

Dass gerade bei Neuzugängen auf den richtigen Charakter geachtet wird, zeigt nicht erst die Episode um Torhüter Christian Wetklo. Der musste nur wenige Wochen nach seiner Verpflichtung aufgrund eines teaminternen Streits schon wieder gehen. "Wir sorgen im Team dafür, ob auf dem Platz oder außerhalb, dass es uns allen gut geht. Das sieht man dann im Spiel. Innerhalb des Teams haben sich viele Freundschaften entwickelt", erklärt Sailer.

Schuster Truppe ist zudem enorm eingespielt. So kommen dann auch die prominenten Winter-Neuzugänge Yannick Stark und Jan Rosenthal noch nicht so zum Zug, wie man eigentlich erwarten würde. Doch Akteure wie Dominik Stroh-Engel, Marco Sailer, Aytac Sulu, Romain Bregerie oder Marcel Heller, die bei ihren früheren Vereinen kaum eine Rolle spielten, blühten am Böllenfalltor auf und gehören zum festen Kern des Teams.

Im Sinne des "Winning ugly"-Prinzips

Dies hat mit 19 bislang nach dem FC Bayern (13) die wenigsten Gegentore im deutschen Profifußball hinnehmen müssen. Auch stehen nur drei Niederlagen zu Buche. Kurioserweise setzte es zwei davon gegen Fortuna Düsseldorf, auch sechs der 19 Gegentore fing man sich allein gegen die Rheinländer. Die letzte Niederlage vor heimischem Publikum gab es Anfang Oktober 2014.

"Das ist alles schon beeindruckend. Die wenigen Gegentore, den Lauf den wir hatten, die Serie an ungeschlagenen Spielen. Aber das bringt uns alles nichts, wenn wir die nächsten sieben Spiele verlieren. Daher heben wir auch nicht ab, aber wir sind natürlich sehr zufrieden mit dem bisherigen Saisonverlauf", sagt Sailer.

Schuster lässt meist ein 4-4-2 spielen, bei dem die Spieleröffnung häufig über lange Bälle auf den zentralen Zielspieler Stroh-Engel funktioniert. Um ihn herum bewegen sich abwechselnd der wuselige Sailer oder Jerome Gondorf, der als eine Art Zehner fungiert. Besonders gefährlich sind die Lilien vor allem nach Standards. Damit gelang nicht selten schon der Siegtreffer kurz vor Schluss. Hinten sicher stehen, vorne mit Standards zum Erfolg - in England wurde dafür der Begriff "Winning ugly" geprägt.

Trainieren beim Kreisoberligisten

Es ist in Darmstadt ein bisschen zur Tradition geworden, dass man mit wenigen, einfachen Mittel hantieren muss. Einen anderen Weg kann es nicht geben, die Finanzen erlauben keine Sprünge. So half im Mai 2008 schon der FC Bayern München mit einem Benefizspiel, um die drohende Insolvenz abzuwehren. Damals kamen 19.800 Zuschauer ins altehrwürdige Böllenfalltorstadion, das enorm viel Charme, aber wenig Profifußball versprüht.

Das gilt auch für die Trainingsbedingungen. Man braucht Glück, um mit warmem Wasser duschen zu können. Teilweise muss auf den wenige Kilometer von Darmstadt entfernt gelegenen Sportplatz des SV Traisa, ein Kreisoberligisten, ausgewichen werden. Die Mannschaft wird mit Kleinbussen dorthin gebracht. Der Trainingsplatz neben dem Stadion hat eben schon bessere Tage gesehen. "Manchmal ist die Situation mit den Trainingsanlagen ein bisschen nervig, aber wir können es eben nicht ändern. Und so eine Busfahrt kann auch mal ganz witzig sein", sagt Sailer.

Aufgrund dieser Begebenheiten suchen die 98er auch vorwiegend nach Spieler-Charakteren, die kein Problem damit haben, auf diese Art von Komfort zu verzichten. Nur solche Typen stellen sicher, dass die Homogenität der Truppe nicht gefährdet wird. Der nüchterne Spielstil, das besondere Stadion, die leidenschaftlichen Fans - dieser Dreiklang ist der Trumpf, mit dem der SVD wuchern kann. Darmstadt als die letzte Instanz der Fußballromantik.

"In Darmstadt zu spielen hat Tradition, das ist noch ehrlicher Fußball. Wenn die Bude mit 16.000 ausverkauft ist, ist es schon etwas Besonderes. Wir haben richtig Bock zu Hause zu spielen, weil wir unser Böllenfalltor einfach lieben und die Fans uns fantastisch unterstützen. Ich glaube, es gibt wenige Mannschaften in der Liga, die Lust haben nach Darmstadt zu fahren und in einem solch alten Stadion zu spielen. Das ist für uns ein Vorteil", sagt Sailer.

Am 28. Mai und 1. Juni stehen die Relegationsspiele um den Aufstieg in die Bundesliga an. Momentan würde das Duell Hamburg gegen Darmstadt lauten.

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