Die Bierlaune ist verflogen

Von Benny Semmler
Beim FC St. Pauli macht sich nach vier sieglosen Spielen Ratlosigkeit breit
© Getty

Nach einer überragenden Hinrunde träumten sie auf St. Pauli schon von den Bayern und der Bundesliga. Doch nach vier sieglosen Spielen in Folge geht auf dem Kiez die Angst um, etwas zu verspielen, das man noch gar nicht hatte.

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Es ist Freitag, der 5. Februar. Der FC St. Pauli siegt auf der heimischen Baustelle nach einer mäßigen zweiten Halbzeit mit 2:1 gegen den Karlsruher SC. Die Verfolger aus Augsburg und Bielefeld sind an diesem Abend meilenweit von den Hamburgern entfernt. Die Aufstieg ist greifbar.

Große Teile der Fans drängen nach dem Spiel mit heiteren Diskussionen über zukünftige Gegner wie Bayern München und dem Hamburger SV in die Bars unweit des Stadions. Das Bier fließt in Strömen, es gibt Kurze aufs Haus - es folgt ja die Rückkehr ins Oberhaus. 45 Zähler in 21 Spielen - wahrlich, es geht kaum besser.

Doch an diesem Abend begann ein Stimmungsumschwung. Wenn auch kaum erkennbar. Aber da tat sich etwas. Plötzlich waren da unzufriedene Fans. Geschätzte 150 Kehlen regten sich gegen Spielende über den lethargischen Kick gegen den KSC auf. So sehr, dass Trainer Holger Stanislawski sich irgendwann breitarmig vor ihnen aufbaute und "Was wollt ihr denn?" fragte.

Vier Wochen später steckt der FC St. Pauli in einer Krise. Sie gewinnen nicht mehr. Sie treffen das Tor nicht mehr. Alles weg.

Augsburg profitiert von Patzern

Nach Karlsruhe folgte ein torloses Remis gegen abstiegsbedrohte Frankfurter, eine schmerzhafte Niederlage beim Spitzenreiter Kaiserslautern sowie punktlose Vorstellungen gegen Bielefeld und 1860 München. Augsburg sagte Danke.

Vom überragenden Kurzpassspiel ist nichts mehr zu sehen. Zu matt und ideenlos, manchmal naiv, bisweilen lässig präsentierten sich die Spieler. Die Folge: Die heitere Bierlaune verwandelte sich in kollektive Katerstimmung.

In dieser Woche wurde reagiert. Stanislawski ließ den angestauten Dampf erst intern, später gegenüber den Journalisten ab. Montag war Tachelestag. 45 Minuten dauerte die Verbalexplosion des Trainers. Hintereinander kritisierte der Trainer seine Spieler. Im Schnitt so drei Minuten.

Stanislawski später: "Positiv sind nur Marius Ebbers und Markus Thorandt weggekommen. Und es ging nicht um die letzen vier erfolglosen Spiele. Ich verfolge die Entwicklung schon die gesamte Rückrunde."

"Ab jetzt wird die Reset-Taste gedrückt"

Es ist die erste Krise für den 40-Jährigen. Und die versucht er mit seiner ihm eigenen Vehemenz zu meistern.

Maßnahme eins: Stanislawski plant einen zweiten Saisonstart. "Ab jetzt wird die Reset-Taste gedrückt. Wir fangen alle wieder bei null an. Wir haben 0:0 Tore und null Punkte. Wir starten nun eine Neun-Spiele-Saison. Unser Ziel sind 27 Punkte."

Maßnahme zwei: Die Mannschaft kehrte am Mittwoch auf das eigentliche Trainingsgelände zurück. Dass dort zentimeterhoch Schnee liegt und ordentliches Fußballspielen unmöglich ist -  erstmal egal. Die Devise heißt: Zeichen setzen.

Denn in den Monaten zuvor trainierte die Mannschaft drei Monate lang im Stadion. Dort sind die Kabinen geräumiger, die Platzverhältnisse angemessen. Aber: "Die Freude im Stadion zu spielen, ist dadurch verloren gegangen." Alles in allem: Das Führungspersonal des FC St. Pauli hat auf die Negativresultate reagiert.

Schulte: "Es fehlen die Prozente, um zu gewinnen"

Nur das vielleicht schwierigste Problem sprechen sie in Hamburg nicht so gerne an. Die Selbstzufriedenheit. Denn die hat sich in einigen Köpfen breitgemacht. Dabei hat der Trainer schon zu Saisonbeginn genau davor immer wieder gewarnt. "Stillstand ist Rückschritt", heißt ein Lieblingsspruch von Stanislawski.

Immerhin, Sportchef Helmut Schulte gestand gegenüber SPOX ein: "Vielleicht hat der eine oder andere von uns gedacht, dass wir schon was erreicht haben - was menschlich wäre. Aber das hat natürlich auch zur Folge, dass man weniger macht. In der Summe fehlen dann die Prozente, um Spiele zu gewinnen."

Charles Takyi im Formtief

Gemeint dürfte beispielsweise Charles Takyi sein. Als Garant für Spielwitz und Torgefahr in der Hinrunde umjubelt, befindet sich der 25-Jährige in einem Formtief. Drei Tore plus fünf Vorlagen - so zog Takyi in die Winterpause. Seine Bilanz sieht heute noch genauso aus.

Andere Krisenkicker sind Deniz Naki und der in der Winterpause verpflichtete Bastian Oczipka. Beide sind weit von den Erwartungen und den eigenen Ansprüchen entfernt. Dennoch dürfen sie weiterspielen - was zwangsläufig zu Verwunderung bei den Reservespielern führt.

Gleiches passiert inzwischen auch in den Fanforen. Dort laufen die Diskussionen ob der jüngsten Aufstellungen und Einwechslungen immer heftiger ab.

Rätseln nach den Gründen

Dabei schien bis vor kurzem nichts gegen einen Aufstieg zu sprechen. 48 Tore erzielte St. Pauli in 21 Partien - die Rostocker, die Frankfurter und die Koblenzer hätten sich für diese Trefferzahl schon verbünden müssen. Und auch eine Liga höher brachte es nach 21 Spielen kein Team auf mehr Tore.

Nun rätseln sie nach den Gründen für die Krise. Für Keeper Mathias Hain gibt es zwei entscheidende Fakoren: "Erstens: Es ist die Zufriedenheit. Zu denken, es läuft schon. Aber genau das ist nicht der Fall. Und zweitens: Natürlich spielen die Gegner jetzt anders gegen uns als in der Hinrunde."

Stanislawski ergänzt: "Die Jungs hatten Angst, etwas zu verlieren, was sie noch gar nicht hatten."

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