WM

Die Perspektive heißt Gegenwart

Von Daniel Reimann
Carlos Gruezo (r.) feierte in Ecuadors Auftaktspiel gegen die Schweiz sein WM-Debüt
© getty

Für seinen großen Traum ließ Carlos Gruezo einst alles zurück, was ihm lieb war. Von Fredi Bobic als "Perspektivspieler" nach Stuttgart geholt, spielte sich Ecuadors Youngster in den Fokus und in den WM-Kader. In Brasilien wurde er erst einmal schmerzhaft geerdet - doch seine Mission ist vor Ecuadors zweitem WM-Gruppenspiel gegen Honduras (0 Uhr im LIVE-TICKER) noch nicht vorbei.

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Es ist die ganz gewöhnliche Zeremonie vor einem ganz gewöhnlichen Länderspiel. Hymne-Trällern, Handshake, Teamfoto. Alles wie immer. Mit einer kleinen Ausnahme: Das Teamfoto zieren nicht elf, sondern 13 Jungs in ecuadorianischem Dress. Zwei Nachwuchsstars wurden kurzerhand mit aufs Bild geholt.

Stürmer Felipe Caicedo hielt seinen Sohn auf dem Arm, genauso wie sein Kollege Carlos Gruezo. Der Stuttgarter hatte seinen Filius in kompletter Fußballermontur eingekleidet und wollte auch auf dem Mannschaftsfoto nicht auf ihn verzichten. Verständlich, hatte er doch dessen Geburt im März verpasst und ihn die ersten Monate seines Lebens nicht gesehen.

"Das sind die Opfer, die man bringen muss, wenn man seine Träume verfolgt", gab Gruezo zu Protokoll. Der Youngster wollte sich "komplett auf den VfB konzentrieren", weshalb er von Anfang an seine Familie - Gruezo hat noch eine Tochter - in Ecuador zurückließ, als er im Winter nach Stuttgart ging.

Angebote aus Köln und Dortmund

Ein Gefühl, dass der 19-Jährige bereits kannte. Im Alter von 14 Jahren hatte er bereits seine Heimat Ecuador verlassen und war zu Defensor Sporting gewechselt. Nach Uruguay, ohne Familie, "ohne einen Erwachsenen".

Drei Jahre später erhielt er Angebote aus Köln und Dortmund, nahm diese aber nicht wahr. Doch der große Traum rückte dadurch noch stärker in den Fokus: "Seither habe ich mich sehr hart auf die Bundesliga vorbereitet." Als der VfB schließlich rief, schien die Zeit reif.

Abermals verließ er seine Heimat, abermals ganz alleine. Zu Hause hinterließ er Verlobte und Tochter. Alles für das Wunschziel Europa: "Jeder Profi in Südamerika will das. Für mich ist ein Traum wahr geworden", sagt Gruezo über den Schritt zum VfB.

Ein Traum, den Gruezo derzeit auf der Überholspur durchlebt. In Stuttgart wurde man nicht müde zu betonen, dass der Ecuadorianer ein Versprechen für die Zukunft sei, ein "Perspektivspieler". Doch nach dem Trainerwechsel hin zu Huub Stevens ging plötzlich alles ganz schnell.

"Er hat sich wirklich schnell entwickelt"

Der Niederländer integrierte Gruezo kurzerhand in den Kader für seine ersten beiden Spiele, gegen Nürnberg kam er wenige Wochen später schließlich zu seinem Profidebüt. Fortan gehörte er zum Stammpersonal und machte neben Christian Gentner auf der Sechs einen überraschend zuverlässigen Job.

Für seine 19 Jahre strahlt er eine außergewöhnliche Ruhe und Ballsicherheit aus, in Zweikämpfen geht er bedacht und gleichsam resolut zu Werke. "Carlos hat Ruhe am Ball, bringt Stabilität ins Mittelfeld", zeigte sich Stevens begeistert. Und betonte abermals: "Er ist ein Perspektivspieler", um stolz nachzuschieben: "Er hat sich wirklich schnell entwickelt".

Das gilt für Gruezo auch neben dem Platz. In Windeseile lernte er deutsch und kann sich längst besser artikulieren als manch einer, der schon über Jahre in der Bundesliga kickt. "Er ist sehr aufmerksam und fleißig", lobt Bobic seinen Musterschüler.

Eine Karriere auf der Überholspur

Getrieben vom eigenen Ehrgeiz war Gruezo schon immer. Schon als er in Stuttgart ankam, formulierte der Perspektivspieler ein forsches Ziel: "Ich möchte in die Startelf reinkommen, und ich möchte mich auch für die A-Nationalmannschaft empfehlen", ließ Gruezo im Januar verlauten.

Ambitioniert für einen 18-jährigen No-Name aus Ecuador. Doch Gruezo ließ Taten folgen und setzte exakt das um, was er sich vorgenommen hatte: Er schaffte den Sprung in die Startelf und plötzlich wurde auch Ecuadors Coach Reinaldo Rueda auf ihn aufmerksam.

Gut sieben Wochen nach seiner Bundesliga-Premiere feierte er sein Debüt in der Nationalmannschaft beim beachtlichen 1:1 gegen die Niederlande, empfahl sich für weitere Aufgaben und schließlich für den WM-Kader. Eine Karriere auf der Überholspur.

Geerdet beim WM-Debüt

Auch mit Beginn der Weltmeisterschaft schien es für den 19-Jährigen weiter steil bergauf zu gehen. Aufgrund der Verletzung von Segundo Castillo spülte es Gruezo direkt in die Startelf fürs Auftaktspiel gegen die Schweiz.

Dort zeigte der Youngster einen ansprechenden Auftritt, hielt im defensiven Mittelfeld die Räume dicht und verteilte die Bälle mit außergewöhnlicher Sicherheit und Sorgfalt. 96 Prozent aller Pässe brachte er an den Mann, eine überragende Quote.

Doch in der 48. Minute war es ausgerechnet Gruezo, der im Kopfballduell mit Admir Mehmedi schlecht aussah. Der Freiburger übersprang ihn locker und nickte zum 1:1-Ausgleich für die Eidgenossen ein. In der 93. Minute setzte es den späten Schock durch Haris Seferovic, die Last-Minute-Niederlage war perfekt. Innerhalb von 45 Minuten wurde der so schnell aufgestiegene Gruezo plötzlich wieder geerdet.

"Damit gebe ich mich auf keinen Fall zufrieden"

Doch der ehrgeizige Youngster blickt nur nach vorne: "Man kann in letzter Sekunde gewinnen, man kann eben auch verlieren. Jetzt müssen wir die Köpfe hoch nehmen", forderte Gruezo nach dem Spiel mit Blick auf die Partie gegen Honduras.

Gegen die Inselkicker geht es bereits um alles oder nichts, will Ecuador noch die theoretische Chance aufs Achtelfinale wahren. Auch Gruezo wird wohl wieder in der Startelf stehen. Der "Perspektivspieler", der mit 19 Jahren wie aus dem Nichts plötzlich unter den Besten der Welt kickt - im Winter noch ein undenkbares Szenario.

Früher als erwartet kann sich das Juwel auf höchster Ebene präsentieren. Gruezos aktuelle Perspektive heißt Gegenwart. Und obwohl er schon jetzt die Ziele erreicht hat, die er noch im Winter ausgegeben hat, weigert sich Gruezo, sich zurückzulehnen: "Damit gebe ich mich auf keinen Fall zufrieden. Ich bin nach Stuttgart gekommen, um hier meine eigene Geschichte zu schreiben."

Carlos Gruezo im Steckbrief

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