WM

Im Fokus – aber nicht im Zentrum

Von Stefan Petri
Shinji Kagawa blieb bei seinem WM-Debüt gegen die Elfenbeinküste blass
© getty

Bei seiner ersten Weltmeisterschaft sind alle Augen auf Shinji Kagawa gerichtet - auch die vom zukünftigen Trainer Louis van Gaal. Um Japan erfolgreich aus der Gruppe zu führen, muss der Dribbelkünstler seine Form aus Dortmunder Zeiten finden. Das Problem: Die größte Hürde auf diesem Weg kommt vor dem Spiel gegen Griechenland (ab 0 Uhr im LIVE-TICKER) womöglich aus dem eigenen Team.

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Hätte Yuichi Komano in seinem 57. Länderspiel für die Samurai Blue ein bisschen tiefer gezielt und den Ball im Tor untergebracht, vielleicht hätte sich Japan ein paar Tage später mit dem zukünftigen Weltmeister messen dürfen. Das erste Viertelfinale in der eigenen Geschichte, eine Präsentation auf ganz großer Bühne. So aber klatschte der Elfmeter im WM-Achtelfinale 2010 gegen Paraguay an die Latte, wenig später war Japan raus.

Der vielleicht talentierteste japanische Fußballer überhaupt sah sich dieses Spiel damals noch am Fernseher an. "Ich war natürlich sehr froh darüber, dass sich Japan so gut verkauft hat", erinnert er sich. "Aber es tat weh, dass ich nicht auch dort auf dem Platz stehen durfte. Ich war bitter enttäuscht, aber ich habe beschlossen, bei der nächsten WM eine zentrale Rolle zu spielen." Im gleichen Sommer wechselt der 21-Jährige zum Tabellenfünften der Bundesliga - und legt einen kometenhaften Aufstieg hin.

Vier Jahre und mehrere Titel in Deutschland und England später ist Shinji Kagawa endlich beim größten Turnier der Welt angekommen. Zumindest körperlich. Die Chancen auf einen erneuten Vorstoß in die K.o.-Runde schienen vor dem ersten Spiel gut, aber dann legte das Team einen blutleeren Auftritt gegen die Elfenbeinküste hin. Sündenbock Nummer eins: Kagawa, der 86 Minuten lang ganz schwach spielte. Umso größer ist vor dem Spiel gegen Griechenland nun der Druck, der aus der Heimat nach Brasilien schwappt. Und dann gibt es ja noch den neuen Trainer.

Der neue Trainer wartet

Denn nach seiner Rückkehr zu Manchester United wird Kagawa dort mit Louis van Gaal ein neuer Übungsleiter warten. Einer, der mit den Niederlanden mal eben den amtierenden Welt- und Europameister weggefidelt hat, der mit Sicherheit den einen oder anderen Spieler mit ins Old Trafford bringen möchte - und der sich seine Schützlinge auch in Brasilien mit Adleraugen anschauen dürfte.

Sein "Messi Japans" steht nach einem schwachen Jahr bei den Reds in der Bringschuld: 30 Spiele unter David Moyes und Ryan Giggs, kein einziges Tor. Die Transferoffensive ist zudem bereits angekündigt, gerade im Mittelfeld wird man in Manchester nachlegen wollen. "Ich werde die WM nicht nutzen, um mich bei van Gaal zu empfehlen", wehrt der Dribbler ab. "Wir wussten ja schon eine ganze Weile, dass er der neue Mann sein wird."

Fehlende Vaterfigur?

Sein Berater Thomas Kroth blieb im "Kicker" allerdings schon einmal betont vage: "Kagawa wird erst einmal die WM spielen. Danach wird er sehen, was der neue Coach plant." Positiv für die japanische Nummer zehn: Van Gaal erlebte in der Saison 2010/2011 mit den Bayern am eigenen Leib, was Kagawa als Spielmacher mit gegnerischen Abwehrreihen anstellen kann - und auf dieser Position spielte er bei United nur sporadisch.

Kagawa und van Gaal: Das könnte klappen, muss aber nicht. Seine Blütezeit erlebte der schüchterne Spielmacher unter Vaterfigur Jürgen Klopp, weinte beim Abschied vom BVB bittere Tränen. Wo Kloppo den emotionalen Papi gibt, findet man beim Holländer jedoch eine strenge, autoritäre Vaterfigur, deren Zuneigung man sich verdienen muss, die von Spielern gleichermaßen geliebt und gehasst wird. Ob Kagawa im Fokus dieser Strahlkraft aufblüht oder vertrocknet, wird sich zeigen.

Aber die Vorzeichen könnten besser sein. Denn obgleich er die magische Nummer zehn auf dem Rücken trägt, ist seine favorisierte Zehnerposition unter Nippon-Coach Alberto Zaccheroni schon besetzt.

Die Konkurrenz im eigenen Lager

Den zentral ist Keisuke Honda gesetzt. Der Stern des 28-Jährigen ging in Südafrika auf, als er den tückischen Jabulani streicheln konnte wie kaum ein Zweiter. Er ist - nicht nur aufgrund seiner blondgefärbten Haare - der Fixpunkt in der Offensive der Blauen, die Königin, um die die Arbeiterbienen herumwuseln.

Nun ist Honda bei weitem nicht in Bestform. Sein Wechsel im Winter aus Russland zum AC Milan gestaltete sich ähnlich durchwachsen wie die Rückrunde Kagawas in der Premier League. Beide spielten so sporadisch, dass es Zaccheroni in der Vorbereitung zur Chefsache erklärte, seine Stars in den Vorbereitungsspielen zur Topform zu führen. Honda sahen einige japanische Medien sogar auf der Bank, schließlich sind die Optionen in der Offensive diesmal durchaus breit gefächert.

Hondas Nummer vier wurde gegen die Elfenbeinküste dennoch standesgemäß wieder in der japanischen Zentrale aufgeboten werden, und Kagawa - in seiner Heimat der Superstar - nominell auf den linken Flügel verdrängt. Honda erzielte den umjubelten Führungstreffer und zeigte mehrere gute Aktionen, tauchte in Halbzeit zwei aber ebenso wie der Rest des Teams ab. Dennoch: Kaum vorstellbar, dass Kagawa Platzhirsch Honda aus der Mitte verdrängen kann, auch wenn er ihm weder in Sachen Form noch in Sachen Talent nachsteht.

Honda - der geborene Anführer

Was ihm im Vergleich zu "Kaiser Keisuke" allerdings am offensichtlichsten abgeht, ist dessen natürliche Autorität, die bei den traditionell eher zurückhaltenden Japanern besonders hervorsticht. Honda ist zwar nicht Kapitän, aber Anführer. Sowohl auf als auch neben dem Platz. Er übernimmt die Verantwortung - weil er sie sucht.

"Je nach Mentalität sind manche Spieler aufgeregt, andere weniger", so Honda vor dem Turnier. "Das hängt auch davon ab, ob es ihre erste, zweite oder dritte WM ist." Während Kagawa sich also auf sein Debüt in Brasilien freute ("davon habe ich schon als kleiner Junge geträumt"), herrschte bei Honda eine andere, entschlossenere Mentalität vor: "Die WM gibt es nur alle vier Jahre, es gibt keine Garantien. Ich werde das Turnier angehen, als wäre es mein letztes."

Er war es auch, der die Marschroute vorgab: "Ich freue mich schon darauf, die Welt zu überraschen. Wir sind definitiv Herausforderer. Die anderen Teams unterschätzen uns, nehmen uns auf die leichte Schulter - aber wir werden nicht zurückstecken."

Kagawa als Zünglein an der Waage

Gerade weil Kagawa Honda nicht aus der Zentrale verdrängen kann, könnte sein Auftritt gegen Griechenland und Kolumbien über das Schicksal der Japaner entscheiden. Honda ist eine "bekannte Größe": Er kommt aus der Tiefe, zieht die Fäden und ist für die überraschenden Aktionen zuständig. Mit gleichermaßen Licht - siehe das Tor gegen die Elefanten - und Schatten. Aber das allein reicht für den großen Wurf nicht.

Denn schon in Südafrika zeigte sich: Ein Honda ist zu wenig. Es liegt am Ex-Dortmunder, auf dem Flügel und im variantenreichen Angriffsspiel der Samurai Blue zu seiner Bestform zu finden. Kagawa ist es, der sein Spiel an Honda anpassen muss. Gelingt ihm das, und steigt er neben Honda zum zweiten Fixpunkt im Spiel der Blauen auf, dann gibt es für die beste Mannschaft Asiens noch Hoffnung. Und dann klappt's auch mit dem neuen Coach.

Die Enttäuschung nach der Pleite gegen Didier Drogba und Co. war riesig, gerade beim gescholtenen Spielmacher selbst. "Ich habe mich so sehr auf die WM vorbereitet. Wenn dies das Ergebnis sein sollte, sagt das viel über mich aus", seufzte er gegenüber der Nachrichtenagentur Kyodo und sprach von einer schlaflosen Nacht. Ein Satz, den man sich aus Hondas Mund irgendwie nicht vorstellen kann. Trainer Zaccheroni sollte seinen Superstar vielleicht noch einmal an eine Aussage erinnern, die nur wenige Tage alt ist: "Es liegt an mir, das Team zu führen."

Shinji Kagawa im Steckbrief