WM

Alternativlos ins Gefecht

Von Daniel Reimann
Brasilien und Trainer Scolari stehen vor dem Viertelfinale unter Druck
© getty

Die Selecao steht im Viertelfinale gegen Kolumbien (22 Uhr im LIVE-TICKER) - dank Neymar, Glück und grenzenlosem Herzblut. Doch es wird Kritik laut, selbst der Trainer fordert mehr Fußball. Dabei war es Luiz Felipe Scolari selbst, der sich und sein Team über die Jahre limitiert hat.

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Thiago Silva konnte es selbst nicht mit ansehen. Er kniete, den Oberkörper gebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben, betend. Womöglich hörte er, wie der Ball von Gonzalo Jara an den Pfosten klatschte. Von dort aus flog er beinahe parallel zur Torlinie ins Nichts. Von diesem Moment an hörte Silva nichts mehr.

Während seine Teamkollegen jubelnd auf Elfmeterheld Julio Cesar zuliefen, brachen er und Neymar synchron zusammen und weinten bitterlich. Auch Julio Cesar und David Luiz, wie Silva ein Teil der vierköpfigen Kapitänsgruppe, vergossen Tränen des Glücks und der Erleichterung. Sie hatten soeben den Traum einer ganzen Nation aufrechterhalten.

Doch unter die Erleichterung im Lande mischten sich auch Skepsis und Kritik. Besonders Carlos Alberto Torres, Kapitän der WM-Elf von 1970, schienen die überkochenden Emotionen der Spieler ein Dorn im Auge zu sein: "Sie heulen, wenn sie die Hymne singen. Sie heulen, wenn sie sich verletzen, sogar wenn sie Elfmeterschießen! Kommt schon... Hört auf zu flennen, es reicht!", motzte er.

Für ihn ist die Sache klar: "Dieses Team ist nicht zu 100 Prozent bereit", so Torres. "Sie sagen, es sei der Druck zu Hause zu spielen. Aber sie hätten darauf vorbereitet sein müssen."

Unmenschlicher Druck: Psychologin betreut Neymar und Co.

Wie man diesem Druck standhalten solle, beantwortet er nicht. Dabei liegt hierin tatsächlich die Kernfrage. Nicht umsonst bestellte Trainer Luiz Felipe Scolari nach dem Viertelfinalsieg über Chile eine Psychologin ins brasilianische Camp. "Ein Notfall", so hieß es. Psychologin Regina Brandao spricht nach eigener Aussage "regelmäßig mit den Spielern", sei es auch nur via Email oder WhatsApp".

Superstar Neymar, der von allen wohl dem größten Druck und Hype ausgesetzt ist, nutzte die Gelegenheit umgehend und suchte das Gespräch mit Brandao. "Wir sind jeden Tag von Emotionen umgeben, wir brauchen Psychologen", sagt er. Es ist nur allzu verständlich.

Der Druck, der auf Neymar und Co. lastet, so sehr er erwartbar war und so oft er auch beschworen wurde, könnte größer kaum sein. Es ist nicht nur das brasilianische, ach so fußballverrückte, Volk, für das ein Triumph im eigenen Land ein kaum aufzuwiegender Prestigegewinn wäre. Es sind auch Verband, Funktionäre und Politiker, die auf den WM-Titel beinahe angewiesen sind.

Zu groß ist die Angst vor einem frühen Aus der Brasilianer. Die Angst, der brasilianische Fußball könnte, anstatt eine Epoche zu prägen, mit langfristigen Folgen zu kämpfen haben. Die Angst, Brasiliens Volk könnte seine Aufmerksamkeit durch ein abruptes Ende der Fußballeuphorie wieder auf all die Missstände im Land, die ökonomischen Nebenwirkungen der WM und das neokolonialistische Gebahren der FIFA richten.

"Weniger Herz, mehr Fußball" - doch wie?

Doch bisher ging alles gut. Brasilien schleppte sich ins Viertelfinale - doch der Weg dorthin wirft Fragen auf. Im Eröffnungsspiel wurden ihnen die zwei Punkte durch eine aberwitzige Elfmeterentscheidung geschenkt, gegen Mexiko war nicht einmal ein Tor drin. Und den abschließenden 4:1-Sieg gegen ein bereits ausgeschiedenes, von Manipulationsverdacht umwittertes Kamerun sollte man besser nicht überbewerten.

Im Achtelfinale gegen das so oft als "Geheimfavorit" deklarierte Chile strapazierte die Selecao ihr Glück bis aufs Letzte. Zweimal entschieden Millimeter, beide Male für die Selecao. Mauricio Pinilla traf kurz vor Schluss nur die Latte, Jara im Elfmeterschießen nur den Pfosten.

Für ein pauschales Resümee von Vorrunde und Achtelfinale reichen drei Stichworte: Neymar, der sein Team zweimal im Alleingang zum Sieg schoss, Glück und: Herzblut. Den Vorwurf mangelnder Einsatzbereitschaft kann man Brasiliens Nationalmannschaft nicht machen, im Gegenteil: Sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Sie fighten, fiebern mit wie verrückt, sie weinen.

Doch ob sie diese Hingabe bis zum Titel trägt, ist fraglich. "Manch ein Spieler hat mehr Emotionen gezeigt", stellte Ramires fest. "Aber im Fußball muss man auf dem Platz dafür sorgen, dass es läuft. Man darf nicht nur auf Glaube oder Glück hoffen." Und Scolari brachte es auf den Punkt: "Weniger Herz, mehr Fußball." Doch ist sein Team dazu überhaupt in der Lage? Zweifel sind angebracht.

Einzelkönner als Spielkonzept

Scolaris Fußball folgt seit 2012 dem gleichen Prinzip: Gebt den Ball denen, die mit ihm Dinge anzustellen vermögen, die sonst keiner kann. Neymar ist der ultimative Fixpunkt. Ohne seine Kreativität, seine Genialität, wäre diese "Spielidee" verloren. Auch Oscar weiß am Ball Spektakuläres zu vollbringen, Hulk immerhin Brutales.

Scolaris Spiel ist auf den fußballerischen Instinkt fantastischer Einzelkönner angewiesen. Ein echtes Konzept kann man ihm nicht unterstellen. Stattdessen ist sein Fußball, der sich an den Indiviualkünstlern orientiert, längst auf diese angewiesen. Was auch daran liegt, dass Scolari seit Amtsantritt nahezu stets der gleichen Elf vertraut. Experimente? Innovation? Nicht vor der unendlich wichtigen Heim-WM.

Der Weltmeister von 2002 setzt auf Bewährtes, das gilt auch für sein System. Das 4-2-3-1 scheint alternativlos - in seiner Form wie auch in seiner Besetzung. Der Erfolg beim Confederations Cup sprach für Scolari.

Individuelle Probleme - keine Alternativen

Doch anno 2014 offenbaren sich individuelle Probleme: Fred, der Torschützenkönig des Confed Cup, ist fußballerisch derart limitiert, dass er ohne Tore nicht weiter positiv auffallen kann und wie ein Fremdkörper, eine Karikatur seiner selbst erscheint. Hulk agiert unter seinen Möglichkeiten, Paulinho wirkt in der Zentrale oft indisponiert. Und Dani Alves, der schon seit etwa eineinhalb Jahren abbaut, steht mittlerweile regelmäßig neben sich, aber nur selten richtig.

Mit Blick auf die letzten drei Spiele gegen die Überbleibsel der Weltelite werden Rufe nach Umstellungen laut. Zu oft wurden schon Neymar oder das Glück strapaziert. Doch die Möglichkeiten Scolaris sind begrenzt. Oder genauer gesagt: Er hat sie selbst begrenzt. Durch sein starres Festhalten an Personal und Taktik über die letzten zwei Jahre konnte sich kaum ein Bankspieler die notwendige Erfahrung und Wettkampfhärte in der Selecao holen.

Ganz zu schweigen von denen, die dem berechenbaren Scolari-Fußball frischen Wind verpassen könnten, aber gar nicht erst nominiert worden. Allen voran Liverpools Coutinho, der eine bemerkenswerte Saison spielte. Oder Filipe Luis, der als womöglich bester Linksverteidiger Europas mit Atletico das Champions-League-Finale erreichte.

Kein Plan B oder C

Doch Experimente waren und sind tabu. Nicht mit Scolari, nicht vor der Heim-WM. Auch auf ihm lastet der ungeheure Druck. Seine über zwei Jahre bewährte Spielweise und das Personal scheinen genauso alternativlos wie der Titelgewinn. Einen Plan B oder Plan C gibt es nicht.

Es scheint daher wie eine ironische Pointe des Schicksals, dass vor dem Viertelfinale gegen Kolumbien Luiz Gustavo gelbgesperrt ausfällt. Ausgerechnet Gustavo, neben Neymar der wichtigste Faktor und die große Konstante im brasilianischen Spiel.

Ob Scolari die zwangsläufige Umstellung inspiriert, weitere Änderungen an Startelf oder System vorzunehmen, bleibt fraglich. Ob diese von seiner Mannschaft entsprechend adaptiert und erfolgreich umgesetzt werden können, erst recht. Dafür hat er sich in den letzten zwei Jahren zu stark selbst limitiert.

Der brasilianische WM-Kader im Überblick

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