WM

2200 Mark für ein Wunder

Von Interview: Stefan Rommel
Das Finale 1954: Ottmar Walter (M.) beobachtet die Konfusion im ungarischen Strafraum
© Imago

Seit 1954 war die deutsche Nationalmannschaft bei Weltmeisterschaften immer unter den besten acht Teams der Welt - eine einmalige Erfolgsstory. In der Rubrik "Damals in..." lässt SPOX zu jeder WM einen deutschen Nationalspieler von seinen Erlebnissen während des WM-Turniers erzählen. Diesmal: Horst Eckel über die WM 1954 in der Schweiz.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Superlative gibt es viele für den ersten Titelgewinn Deutschlands überhaupt, die Schlagworte sind hinlänglich bekannt.

Aber unter welchen Umständen holte der krasse Außenseiter damals den "Coupe Jules Rimet"? Was war das heimliche Geheimnis der deutschen Mannschaft? Und wie tickte Trainer Sepp Herberger nun wirklich?

Horst Eckel, neben den bereits verstorbenen Fritz Walter und Helmut Rahn die zentrale Figur der Weltmeister von 1954, erzählt.

SPOX: Herr Eckel, was später in einem Wunder endete, war für die deutsche Mannschaft zu Beginn wohl eher eine Reise ins Ungewisse. Wie wurden Sie damals in der Schweiz in Empfang genommen?

Horst Eckel: Deutschland hatte in den Nachkriegsjahren im Ausland einen schweren Stand, die Erinnerungen an den Krieg waren noch viel zu frisch. Wir waren auf der ganzen Welt weder politisch, noch wirtschaftlich und schon gar nicht sportlich anerkannt. Wir waren die erste deutsche Mannschaft, die nach dem Krieg wieder an einer Weltmeisterschaft teilnehmen durfte. Aber wer bitteschön war Deutschland?

SPOX: Können Sie das Gefühl beschreiben, mit dem Sie in das Turnier gegangen sind.

Eckel: Zunächst mal war klar: Wir wollten nicht in die Schweiz fahren, um Geld zu verdienen. Das ging damals ja noch gar nicht. Erst lange nach dem Turnier war der DFB bereit, uns eine Art Siegprämie zuzugestehen. Für jeden Spieler gab es 2000 Mark, für diejenigen, die alle Spiele mitgemacht hatten, nochmal 200 Mark obendrauf. Am Ende hatte ich für den Titel 2200 Mark bekommen.

SPOX: Hatten Sie einen besonderen Auftrag auf die Reise mitbekommen, um dem ramponierten Renommee der Deutschen ein wenig Glanz zu verschaffen?

Eckel: Wir wollten nur guten Fußball spielen. Wir hatten intern einen ungeschriebenen Auftrag: Den Menschen in Deutschland zu zeigen, dass wir noch nicht ganz am Boden zerstört sind. Dass wir wieder aufstehen können. Zu Hause lag alles in Trümmern und wir durften uns auf eine abenteuerliche Fußball-Reise machen. Das war ein besonderes Privileg, das wir versucht haben, mit Leben zu füllen. Und das ist uns glaube ich auch ein bisschen gelungen.

SPOX: Für viele war der Sieg bei der WM damals der heimliche Auftakt zum Wirtschaftswunder der 50er Jahre.

Eckel: Wir hatten ja keine Ahnung, was wir da angerichtet hatten. In der Schweiz waren wir von allem so fern, ohne Fernsehen und nur mit vereinzelten Radio-Reportagen quasi ohne Information. Was wir geschafft hatten, erfuhren wir erst, als wir wieder auf deutschen Boden zurückkehrten.

SPOX: Was war da los?

Eckel: Es war gigantisch, unbeschreiblich. Hunderttausende Menschen standen an der Bahnstrecke und haben uns zugejubelt. Ich bekomme heute immer wieder Gänsehaut, wenn ich an diese Momente zurückdenke. Denn da fiel uns plötzlich zum ersten Mal richtig auf: "Jungs, wir waren tatsächlich Weltmeister!"

SPOX: Gab es damals schon so etwas wie Star-Rummel?

Eckel: Verglichen mit heute war das natürlich gar nichts. Die Leute in meiner Heimat haben mich erkannt und öfter auch angesprochen. Mit der Zeit wurde das dann immer mehr. Immer mehr Familien bekamen einen Fernseher und damit einen Eindruck davon, wie der Eckel eigentlich aussieht.

SPOX: Hat Ihnen dieses bescheidene Stück Ruhm gefallen?

Eckel: Sagen wir mal so: Es hat mir geschmeichelt. Aber ich habe mir immer gesagt: "Wenn du mal etwas Großes erreichst, denke trotzdem immer daran, wo du herkommst. Bleib' mit beiden Beinen auf dem Boden." Das habe ich geschafft, und darauf bin ich auch stolz.

SPOX: Wie waren die Stunden nach dem Finale?

Eckel: Am Anfang etwas seltsam. Wir saßen in der Kabine und jeder hat vor sich hin gestarrt. Gesprochen hat so gut wie niemand, alle waren in Gedanken. Dann kam der Herberger rein und sagte: "Was ist denn mit euch los? Wir haben doch immer gesungen - wieso singt ihr jetzt nicht?" Und dann fiel die Anspannung ab.

SPOX: Heute singen die Spieler allenfalls noch das nach, was die Stadionregie ihnen durch die Boxen entgegen bläst. Was war ihr Lieblingslied?

Eckel: "Hoch auf dem gelben Wagen" haben wir immer gesungen. Der Herberger wollte immer, dass wir gemeinsam singen.

SPOX: Heute heißt so etwas "Teambuilding-Maßnahme".

Eckel: Für uns war das völlig normal. Da musste sich keiner schämen, wenn man gemeinsam gesungen hat. Ein kleines Geheimnis unseres Erfolgs.

SPOX: Wie ging es weiter?

Eckel: Da gibt es schon Parallelen zu heute. Mit dem Bus zurück ins Hotel. Abends gab es ein Bankett. Da waren wir auch ausgelassen, haben gut gegessen und auch ein bisschen was getrunken. Aber wir waren nicht ausufernd. Um spätestens 3 Uhr waren alle im Bett.

SPOX: Die Zeit in Spiez ist ja fast schon legendär. Wie lief so ein Tag im Trainingslager ab?

Eckel: Jeden Tag gab es eine Einheit. Die fand aber im Prinzip immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Herberger hat den Großteil der Presse abgelehnt, es durften nur ein paar ausgewählte Journalisten zuschauen. Es war gesittet und ruhig. Kein Fernsehen, kaum Fragen. Im Vergleich zu heute ein Unterschied wie Tag und Nacht.

SPOX: Wie haben Sie sich neben den Spielen und Trainingseinheiten abgelenkt, so ganz ohne Fernseher, Playstation und iPod?

Eckel: Wir haben Karten gespielt und sehr viel Tischtennis. Und abends sind wir öfter mal ins Kino gegangen. Schwimmen war verboten! Beim Schwimmen würde man seine Kräfte verlieren, hat der Herberger gesagt.

SPOX: Die Trainingslehre von heute sagt etwas anderes.

Eckel: Wir durften auch vor dem Spiel nichts trinken. Zwei, drei Stunden vor dem Spiel durften wir keine Flüssigkeit mehr zu uns nehmen, noch nicht mal ein paar Schluck Wasser - und wehe, der Herberger hätte einen dabei erwischt...

SPOX: Herberger stand nach dem "Trick-Spiel" beim 3:8 gegen Ungarn in der deutschen Presse unheimlich unter Druck. Hat er sich in den kniffligen Tagen bis zum entscheidenden Türkei-Spiel verändert?

Eckel: Der Herberger hat sich die Sache schon weit vorher gründlich überlegt. Schon in der Sportschule München in der Vorbereitung wusste er, dass wir nur über die Türken weiterkommen konnten. Herberger hat einkalkuliert, dass wir sogar hoch verlieren könnten. Deshalb blieb er völlig ruhig.

SPOX: Wie war Sepp Herberger als Trainer und Mensch?

Eckel: Er war sehr streng - aber gerecht. Wenn der was gesagt hat, dann war er hundertprozentig davon überzeugt und es hat meistens auch gestimmt. Da gab's kein Blabla. Wir wussten das und haben ihm vollkommen vertraut. Er war ein einfach großer Stratege.

SPOX: Gab es einen Moment, an dem die Mannschaft erkannt hat: Wir können hier Großes erreichen.

Eckel: Das Spiel gegen Jugoslawien (2:0-Sieg im Viertelfinale, Anm. d. Red.) war das entscheidende. Erst da hatten wir gemerkt, dass wir mit jeder Mannschaft - außer den Ungarn - mitspielen und sie auch schlagen konnten. Nach Jugoslawien haben wir uns gesagt: "Und jetzt schaffen wir es ins Finale!" Österreich haben wir dann förmlich vom Platz gefegt, das war spielerisch das beste Spiel.

SPOX: Und dann warteten schon wieder die übermächtigen Ungarn.

Eckel: Die haben uns unterschätzt und wir waren hoch motiviert. Herberger hat uns auf Erfolg eingestellt. Die Ungarn hatten übersehen, dass wir mit unserer zweiten Mannschaft im Vorrundenspiel schon drei Tore gegen sie geschossen hatten. Deren schnelles 2:0 war im Nachhinein tödlich für die.

SPOX: Der Mythos um die neuartigen Stollenschuhe der Deutschen hält sich bis heute hartnäckig.

Eckel: Die Ungarn hatten auch Stollenschuhe, aber wir konnten unsere Stollen ganz schnell wechseln. Die Ungarn mussten mit dem durchspielen, was sie unter den Beinen hatten. Wir dagegen haben schnell auf den glitschigen Boden reagiert. Aber trotzdem war es jetzt auch nicht so, dass die mehr rutschten als wir. Ich empfinde das eher als kleine Ausrede der Ungarn.

SPOX: Ihre Gegner wurden bei der Rückkehr nach Ungarn von ihren Landsleuten heftig angefeindet, die Regierung sah im 2:3 sogar eine Niederlage des Sozialismus gegen einen Klassenfeind.

Eckel: Wir hatten jahrelang von den Ungarn nichts mehr mitbekommen. Fast zehn Jahre lang ging das so. Dann hat der Südwestdeutsche Fußballverband in Ungarn angefragt, ob sie uns nicht mal einen Besuch abstatten wollen. Vom ersten Treffen an waren wir mit den einstigen Gegnern dann beste Freunde. Wir haben uns dann alle paar Jahre zwei, drei Tage lang getroffen und zusammen gefeiert. Da waren einige lange Nächte dabei. Heute wäre so etwas undenkbar.

SPOX: Was war der schönste Moment der WM?

Eckel: Als der Schiedsrichter das Finale abgepfiffen hat. Die Ungarn hatten uns in den letzten Minuten beinahe erdrückt, Turek hat alles gehalten. Und dann pfeift der ab. Das kann man mit Worten nicht beschreiben.

SPOX: Wie oft mussten Sie diese Geschichten jetzt schon erzählen?

Eckel: Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Auf etlichen Veranstaltungen, Verleihungen und Einladungen. Aber ich muss auch sagen: Ich erzähle sie immer wieder gern.

Alle Informationen zur WM 2010