Der Verkauf des Heiligen an den Teufel: Als Roberto Baggios Transfer zu Juventus für Ausschreitungen in Florenz sorgte

Von Falko Blöding
Roberto Baggio
© getty

Heute treffen im Halbfinale der Coppa Italia Juventus Turin und die AC Florenz aufeinander - zwei Klubs, deren Fans einander hassen. Auch wegen eines Transfers, der in die Geschichte einging.

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Rauchschwaden durchziehen die wunderschöne Altstadt von Florenz, es riecht nach gezündeten Feuerwerkskörpern. Wo es sonst idyllisch zugeht, herrscht absoluter Ausnahmezustand. Menschen rennen umher, sie brüllen Beleidigungen, bewaffnen sich mit Molotov-Cocktails und Steinen.

Alles, was nicht niet- und nagelfest ist und zum Wurfgeschoss taugt, wird mitgenommen. Ziel des aufgebrachten Mobs ist das Artemio Franchi. Das alt-ehrwürdige Stadion der Fiorentina. Es liegt nicht weit von der Altstadt entfernt und in direkter Nähe zur Geschäftsstelle des traditionsreichen Serie-A-Klubs.

Der Grund für die Wut der Leute ist ebenso banal wie emotional: Ein Fußballspieler wurde verkauft. Und nun kocht die Volksseele. 50 Menschen werden bei den Ausschreitungen verletzt, neun Randalierer von der Polizei festgenommen.

Und der Präsident der Fiorentina muss sich aus Angst vor der Wut der eigenen Tifosi im Artemio Franchi verstecken. Zwei Tage hält der Belagerungszustand an, dann beruhigt sich das Geschehen allmählich.

Roberto Baggio
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Florenz verliert erst das UEFA-Cup-Endspiel und dann Roberto Baggio

Der Fußballspieler, dessen Transfer diese Szenen am 19. Mai 1990 ausgelöst hatte, ist Roberto Baggio. Er ist der beste Spieler Italiens. Ein göttlicher Kicker mit besonderer Haarpracht, der nicht durch Zufall den Spitznamen "Divin Codino" ("Göttliches Zöpfchen") trägt. Baggio ist einer der Spieler, für die die Menschen ins Stadion pilgern. Er ist ein phantasievolles Genie, technisch phänomenal und torgefährlich. Er streichelt den Ball und hat Ideen, die keinem anderen Spieler kommen. Er arbeitet den Fußball nicht, er spielt ihn tatsächlich. Zu seinen bekanntesten Aussagen gehört: "Ich lasse lieber den Ball laufen, der schwitzt nicht."

Dieser Baggio, den die Fans liebevoll ihren "Roby" nennen, ist der ganze Stolz Florenz'. In der Metropole in der Toskana gibt es keine anderen Vereine. Hier gibt es nur die Viola und sonst nichts. Die Kinder hier werden Fiorentina-Fans, eine andere Option gibt es gar nicht. Man ist stolz darauf, dass es hier keine Fanclubs vom Erzrivalen Juventus, dem beliebtesten Klub Italiens, gibt. Dass der überragende Baggio hier den Takt vorgibt und nicht bei Juve, Milan oder Inter, passt ins Selbstverständnis.

Im Frühjahr 1990 lenkt Baggio bereits seit knapp fünf Jahren das Spiel der Fiorentina. Nach einer schweren Knieverletzung hat der Klub auf ihn gebaut und der Angreifer erzielt in zwei Jahren 43 Treffer. Die Fans träumen von einer glorreichen Zukunft mit Baggio als Fixpunkt, als plötzlich Gerüchte aufkommen, Juventus wolle den Superstar verpflichten. Schnell wird klar: An den Spekulationen ist etwas dran und unter den Fans in Florenz breitet sich Panik aus. Schnappt sich ausgerechnet der verhasste Klub des Agnelli-Clans, bei dem die Fabrikarbeiter schuften, damit Juventus sich teure Spieler kaufen kann (so sehen es die Tifosi), ihren Liebling? Jener Verein, der Florenz 1982 am letzten Spieltag unter kontroversen Umständen den Scudetto entriss und der gerade das UEFA-Cup-Finale gegen die Viola gewonnen hatte?

Was die Anhänger aber damals nicht wissen: Das Interesse an einem Blockbustertransfer ist beidseitig. Florenz-Präsident Flavio Pontello hat den Deal eingestielt, weil seinen Klub Geldprobleme plagen. Der Verkauf seines Kronjuwels ist da die Lösung. Juventus ist ein dankbarer Abnehmer und für die damalige Weltrekordablöse von 15 Milliarden Lire (umgerechnet etwa 7,5 Millionen Euro) wird Baggio ein Bianconero.

Baggio: "Man verkaufte mich gegen meinen Willen"

In Florenz rasten die Fans aus und verwandeln die Umgebung der Viola-Geschäftsstelle in ein Schlachtfeld. Der Frust ist riesig, viele wollen nicht wahrhaben, was da gerade passiert. Dieser Transfer ist weit mehr als der Abgang eines guten Kickers. Er gleicht dem Verkauf eines Heiligen an den Teufel!

Baggio selbst hält sich in der ganzen Angelegenheit zurück. Er vermeidet es, mit unbedachten Äußerungen weiter Öl ins Feuer zu gießen. Er lächelt brav und trägt bei seiner Präsentation in Turin keinen Juve-Schal. Ein Umstand, der bei den Fans seines neuen Arbeitgebers auch nicht gut ankommt. Wie es damals in Baggio aussieht, lässt eine spätere Aussage erahnen: "Ich wollte nicht weg, man verkaufte mich gegen meinen Willen. Mein Herz wird immer violett bleiben."

Nach der WM 1990 nimmt er seine Arbeit bei Juventus auf. Sein Start dort ist holprig, der Rekordmeister beendet die Saison auf dem siebten Tabellenplatz. Der Fiorentina ergeht es noch schlechter, sie rangiert gar nur im unteren Mittelfeld.

Dann kommt der 6. April 1991. Der Tag von Baggios Rückkehr. In der Geschichte des Calcio wurde bis dahin selten so auf eine Partie, beziehungsweise die Rückkehr eines Spielers, hingefiebert.

Baggio tritt bei seiner Rückkehr nicht zum Elfer an

Die Stimmung in der Stadt ist feindselig. Noch mehr als sonst prägen Anti-Juve-Banner und -Schriftzüge das Stadtbild. Überall ist nur von den "ladri", den "Dieben", die Rede, wenn es um die Juventini geht. Es werden wieder Ausschreitungen befürchtet, doch diesmal bleibt es auf den Straßen ruhig.

Umso lauter ist es im Artemio Franchi. Baggio wird bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen, beschimpft und beleidigt. Die Fiorentina führt nach Diego Fusers Treffer mit 1:0, als es einen Strafstoß für die Gäste gibt. Baggio, ein sicherer Schütze vom Punkt, tritt nicht an. Er lässt Luigi De Agostini schießen und Keeper Gianmatteo Marreggini pariert. Ekstase in lila!

Nach gut einer Stunde hat Baggio in seinem alten Wohnzimmer Feierabend. Trainer Luigi Maifredi wechselt ihn aus. Das Göttliche Zöpfchen schleicht vom Platz. Den Blick gesenkt, zieht er sich eine Trainingsjacke über und marschiert Richtung Katakomben, als ihm ein Tifoso einen Fiorentina-Schal vor die Füße wirft. Baggio hebt ihn auf und nimmt ihn mit. Dann winkt er noch in Richtung der "Curva Fiesole", in der die Hardcore-Ultras seines Ex-Klubs stehen.

Baggio sagt Jahre später über das Aufheben des Schals: "Es war eine rein instinktive Geste. In allen Mannschaften, in denen ich gespielt habe, habe ich ein Stück meines Herzens zurückgelassen und vor allem in Florenz haben sie nach den vielen Verletzungen auf mich gewartet und mir bedingungslose Liebe gegeben. In dem Moment, in dem ich ausgewechselt wurde, warf ein Fan den Schal auf das Feld und es war nur natürlich, ihn aufzuheben und um den Hals zu legen. "

1993 wird Baggio zum Weltfußballer des Jahres

Die Juve-Fans sind sauer, 300 von ihnen stellen ihren Top-Spieler zwei Tage später beim Training zur Rede. Sie kritisieren die Szene mit dem Schal und werfen Baggio Feigheit vor, weil dieser nicht zum Elfmeter angetreten war und seine Mannschaft auch dadurch mit 0:1 verloren hatte.

Coach Maifredi allerdings verteidigt seinen Schützling. Er betont, im umgekehrten Fall hätten die Juve-Fans eine ähnliche Aktion eines Ex-Spielers begrüßt. Und Baggio habe den Strafstoß nicht verweigert, sondern nicht schießen wollen, weil er gegen Mareggini im Training bereits "8.000" Elfmeter geschossen habe.

Nach der durchwachsenen ersten Saison in Turin avanciert Baggio im schwarz-weißen Dress zu einem der besten Spieler seiner Zeit. Er wird Kapitän, schießt in fünf Jahren mehr als 100 Pflichtspieltore und gewinnt unter anderem den UEFA-Cup 1993 (in Halbfinale und Finale gelingen ihm allein fünf Treffer) und die italienische Meisterschaft 1995. 1993 wird er als Weltfußballer des Jahres ausgezeichnet.

In Florenz, wo sie um Gabriel Batistuta eine starke Mannschaft aufbauen, aber ohne zählbare Erfolge bleiben, sehen sie die Sternstunden ihres einstigen Lieblings weiter mit großer Abneigung. Der Hass auf Juve ist riesig. Man fühlt sich von den "Dieben" nun nicht nur zweier großer Titel und eines großartigen Spielers, sondern auch einer erfolgreichen Zukunft beraubt.

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