Serie A - Musa Juwara vom FC Bologna: Schlauchboot-Odyssee, Chaos-Garant, San-Siro-Held

Von Dennis Melzer
Musa Juwara spielt für den FC Bologna.
© imago images/Antonietta Baldassarre

Musa Juwara flüchtete alleine aus seiner Heimat Gambia. Mittlerweile spielt der 18-Jährige beim FC Bologna. Eine Geschichte über ein modernes Fußball-Märchen.

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Die Situation mutete einigermaßen ausweglos an, als Musa Juwara sich das Aufwärmshirt in der 65. Minute abstreifte und gegen sein Trikot tauschte. Ein großes 1:0 prangte auf der Anzeigetafel im altehrwürdigen San Siro zu Mailand, die Eins stand neben dem schwarz-blauen Inter-Wappen, die Null zeigte die geschossenen Tore seines FC Bologna an.

Damit war der Klub aus der Emilia-Romagna indes noch gut bedient, hatte Bologna doch Mittelfeld-Stratege Roberto Soriano (Rote Karte, 57. Minute) verloren und wenige Augenblicke vor Juwaras Einwechslung zudem Glück, als Nerazzurri-Star Lautaro Martinez einen Elfmeter zur vermeintlichen Entscheidung vergab.

Sinisa Mihajlovic: Musa "verursacht stets Chaos, wenn er spielt"

"Eigentlich war die Idee, Mattias Svanberg einzuwechseln und ihn auf die rechte Seite zu stellen", erklärte Bologna-Trainer Sinisa Mihajlovic im Anschluss an die Partie und begründete, warum er sich letztlich gegen den Schweden und für das unbeschriebene Blatt namens Juwara entschied: "Ich schaute das Spiel und sagte zu mir: 'Wir sollten Musa bringen.' Er verursacht stets Chaos, wenn er spielt. Inter wird nichts mehr verstehen."

Mihajlovics Schachzug sollte sich als goldrichtig erweisen. Nur neun Minuten nach seiner Einwechslung profitierte der junge Gambier von einem Querschläger in Inters Hintermannschaft und nagelte die Kugel trocken aus rund 15 Metern in die Maschen, ehe er zum Jubellauf ansetzte und nahezu vom gesamten Bologna-Personal begraben wurde.

"Ich wusste, dass Musa treffen würde", verriet Mihajlovic, der seine Vorahnung eigenen Angaben zufolge auch Sportdirektor Riccardo Bigon mitgeteilt habe. "Kurz nach seiner Einwechslung hat er dann tatsächlich ein Tor geschossen. Das hat er sich verdient."

Dank Gambia-Duo: Bologna dreht Spiel gegen Inter

Komplettiert wurde das Rossoblu-Glück vor wenigen Wochen, als Juwaras Namensvetter und Landsmann Musa Borrow die Begegnung sogar noch gänzlich zugunsten Bolognas drehte. Beim Schlusspfiff prangte schließlich ein 1:2 auf der Anzeigetafel. "Ich bin sehr glücklich über mein erstes Tor", freute sich Juwara, der bis dato vier Kurzeinsätze (insgesamt 31 Minuten) verbucht hatte. Er schob nach: "Ich widme es meiner Familie und denjenigen, die mir auf meiner Reise geholfen haben. Für mich ist ein Traum wahrgeworden und ich werde mich mein Leben lang daran zurückerinnern."

Spricht der 18-Jährige von einer "Reise", ist der Begriff nicht im übertragenen, sondern im wahrsten Sinne zu verstehen. Juwara wurde in Tujereng, einem kleinen Ort an der malerischen gambischen Atlantikküste geboren. Weil seine Eltern früh verstarben, wuchs er bei seinem Großvater auf.

Obwohl das kleinste afrikanische Land sich in den vergangenen Jahren bei Touristen immer größerer Beliebtheit erfreute, ist die innenpolitische Lage in Gambia instabil, Präsident Yahya Jammeh herrschte zwischen 1994 und 2017 mit eiserner Hand, ging beispielsweise brutal gegen Homosexuelle oder kritische Journalisten vor.

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© imago images/Gribaudi

Musa Juwara flüchtet im Alter von 14 Jahren aus Gambia

Die prekäre Situation veranlasste in der jüngeren Vergangenheit etliche Menschen dazu, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Auch Juwara entschloss sich 2016, also im Alter von 14 Jahren, den beschwerlichen Weg in Richtung Europa auf sich zu nehmen.

"Musa Juwara hat die übliche Route von Gambia nach Europa genommen", weiß der gambische Journalist Momodou Bah, der mit dem englischen Guardian über Juwaras Odyssee sprach. "Ich habe enge Freunde, die diesen Weg ebenfalls eingeschlagen haben. Die meisten Jugendlichen haben nicht die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Für sie ist es eine große Sache, nach Europa zu gehen. Als Musa ging, waren die Flüchtlingszahlen auf dem Höhepunkt. Es hieß: 'Entweder ich schaffe es, oder es ist das Ende für mich.'"

Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die auf der hoffnungsvollen Suche nach besseren Lebensbedingungen ihr Leben verloren, schaffte es Juwara. Über den Senegal, Mali, Burkina Faso und Niger gelangte er nach Libyen, wo er in ein Schlauchboot stieg, das ihn über das Mittelmeer nach Italien, genauer gesagt Sizilien, brachte. In Basilikata, einer Region südlich von Neapel, wurde er in der Folge untergebracht und durfte seiner großen Passion, dem Fußballspielen, nachgehen.

Jugendtrainer Vitantonio Summa adoptiert Juwara

Juwara heuerte bei dem kleinen Verein Virtus Avigliano an. Eine Fügung, die das Leben des Teenagers nachhaltig verändern sollte. Er lernte Vitantonio Summa kennen, der in der Virtus-Jugend als Trainer fungierte und schnell erkannte, über welch großes Talent der Neuankömmling verfügte. Doch nicht nur das - Summa nahm sich Juwaras auch neben dem Platz an, avancierte zu einer Vaterfigur für den Jungen und adoptierte ihn sogar. Juwara machte in Avigliano schon bald von sich reden, auch dank seiner fußballerischen Klasse gewann Virtus die regionale Meisterschaft.

Die Entwicklung des Juwels blieb nicht unbeobachtet, weit über die Grenzen Basilikatas hinaus wurden große Vereine auf die Fähigkeiten Juwaras aufmerksam. Chievo klopfte bei Familie Summa an, um den Offensivmann nach Verona zu lotsen.

Das Vorhaben der Mussi Volanti erwies sich anfänglich allerdings als schwierig, weil der italienische Verband in seinen Statuten eine Art Schutzfunktion eingebaut hat. Diese soll verhindern, dass junge, talentierte Einwanderer von zwielichtigen Spielerberatern ausgebeutet werden.

Wechsel zu Chievo droht zu platzen: "Musa fiel in ein psychisches Loch"

"Musa verstand die Bürokratie nicht und fiel in ein psychisches Loch", erklärte Juwaras Adoptivmutter Loredana Bruno in einem Interview mit Forza Italian Football. Die Familie suchte sich rechtlichen Beistand, um Juwaras großen Wunsch zu erfüllen - mit Erfolg. Im November 2017 wurde der Wechsel doch noch über die Bühne gebracht.

In Veronas Jugendteams knüpfte er nahtlos an die Leistungen beim unterklassigen Vertreter Virtus Avigliano an. Gleich in seinen ersten Partien für die U19 von Chievo steuerte er vier Treffer bei, nach 13 Spielen standen acht Tore zu Buche.

Juwara bestach so sehr, dass er am letzten Spieltag der Saison 2018/19, als längst feststand, dass Chievo den Gang in die zweite Liga würde antreten müssen, erstmals elf Minuten in der Serie A für die Profis zum Einsatz kam.

Es blieb sein einziger Auftritt für die erste Mannschaft Veronas, weil Bologna kurz darauf 500.000 Euro an die Etsch überwies. Zunächst in der A-Jugend eingesetzt, überzeugte Juwara mit seiner enormen Schnelligkeit, starker Technik und seiner vorbildlichen Einstellung auch in der Studentenstadt auf Anhieb.

Mihajlovic zog ihn bereits nach knapp sechs Monaten ins Profiteam hoch, in dem Juwara auf den drei Jahre älteren Barrow, der ebenfalls aus Gambia stammt, traf. "Die zwei Musas sind gute Freunde geworden. Auf und neben dem Platz", wurde Adoptivvater Vitantonio Summa jüngst von Tuttomercatoweb zitiert. "Vor allem der Corona-Lockdown hat die beiden zusammengeschweißt."

Mihajlovic mit Medienschelte: "Ihr tut alles, um junge Talente zu ruinieren"

Bei aller Freude darüber, dass Juwara trotz seines jungen Alters mutig auftritt, keinen Ball verlorengibt und gegen Inter sogar als entscheidender Mann in Erscheinung trat, drückt sein Coach verständlicherweise auf die Bremse.

"Musa muss am Boden bleiben", sagte Mihajlovic zuletzt bei Sky und hielt die Presse dazu an, den Rohdiamanten nicht sofort mit der Hype-Maschine zu bearbeiten. "Ihr tut alles, um junge Talente zu ruinieren, bevor sie richtig durchstarten."

Glaubt man Vitantonio Summa, dürfte der mediale Wirbel seinen Adoptivsohn weitestgehend unberührt lassen. "Er hat es sich mit seiner Demut verdient, seinen Traum in vollen Zügen zu leben. Ohne Grenzen, ohne Erwartungen." Fürwahr hat Juwara schon jetzt, mit nur 18 Jahren, viel erlebt und erreicht.

Er kennt sie, die scheinbar ausweglosen Situationen. Dass er sie lösen kann, hat nicht nur das Spiel in Mailand vor wenigen Wochen gezeigt - sondern vielmehr sein bisheriges Leben.

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