Das Spiel mit der Angst: Als Fabio Quagliarella die Stalking-Hölle auf Erden erlebte

Von Dennis Melzer
Fabio Quagliarella, Neapel
© getty
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Bariles Ehe geht in die Brüche

Laut Barile befanden sich Piccolo und dessen Frau damals in einer handfesten Ehekrise. Piccolo sei eifersüchtig gewesen, habe sich immer wieder misstrauisch gezeigt, den Verdacht geäußert, Simona betrüge ihn mit einem Arbeitskollegen. Der Streit schaukelte sich offenbar so hoch, dass sie ihren Mann verließ und zwischenzeitlich bei ihrer Mutter einzog.

Hinter dem anonymen Quälgeist vermutet sie jedoch nicht ihren Ehemann Piccolo. Ganz im Gegenteil: Sie zieht ihren Gatten, den Experten, was diese Art von Delikte angeht, als Vertrauten heran. "Wir haben ihm vertraut, ihm alles offengelegt", sagt Barile. "Piccolo rief mich an und erklärte mir: 'Pass auf, ich ermittle gerade in eurem Fall. Ich wollte dich nur warnen, weil hier im Polizeipräsidium belastendes Material gegen dich eingegangen ist, das vermuten lässt, dass du ein Drogenjunkie bist und deine Frau betrügst.'"

Damit nicht genug: "Ganz besonders erinnere ich mich an einen Abend. Ich kam nach Hause und meine Frau war völlig außer sich. Sie hatte einen Brief auf den Tisch gelegt, der ein Foto beinhaltete, auf dem mein Sohn und ein Freund von ihm zu sehen waren. Nichts, das man mit Pädophilie in Verbindung bringen würde. Aber auf dem beigelegten Zettel war ein Screenshot von eMule (ein damals beliebter Filesharing-Client, Anm. d. Red.), der eine angebliche Datei mit dem Namen 'Anständiger Anwalt vergnügt sich mit kleinen Jungs', zeigte."

Weil Bariles Frau darüber hinaus auch Briefe an ihren Arbeitsplatz gesendet bekommt, in denen ihr Mann als drogenaffiner Zuhälter dargestellt wird, geht die Ehe in die Brüche. Dass Piccolo ein falsches Spiel spielt, fällt ihm erst Jahre darauf, kurz vor besagtem Sommerurlaub mit De Riso und Quagliarella, auf. "Ich war früher politisch in Castellamare aktiv. Piccolo rief mich an und sagte, der Bürgermeister habe eine persönliche E-Mail erhalten und an ihn weitergeleitet. Sie beinhalte schlimme Verdächtigungen, ich sei mit der Camorra verbandelt und würde als Geldwäscher für die D'Alessandro-Familie (einem Mafia-Clan, Anm. d. Red.) fungieren. Daraufhin habe ich den Bürgermeister angerufen und ihn gefragt, ob Piccolos Aussagen der Wahrheit entsprechen. Er sagte mir: 'Ich habe eine E-Mail bekommen und sie an die Polizei weitergeleitet. Aber du wurdest mit keinem Wort erwähnt. Wer hat dir davon erzählt?' Da wusste ich, dass Piccolo mich anlügt."

Piccolos Kartenhaus aus Lügen zerfällt

Barile möchte sich selbst vergewissern, fährt zum Büro des Bürgermeisters, der ihm die Mail zeigt. Er wird tatsächlich mit keinem Wort genannt. Mit dem Beweis, dass Piccolo offenkundig Unwahrheiten an ihn herangetragen hatte, bestellt Barile seinen ehemaligen Schulkameraden ins Büro.

"Ich habe ihn beschimpft. Ich wollte ihn schlagen, machte ihm sehr aggressiv deutlich: 'Ab morgen hast du meinen Namen vergessen. Selbst wenn ich einen Brief bekomme, der nicht von dir geschrieben wurde, werde ich dich dafür verantwortlich machen." Piccolo sei nervös geworden, habe Augenkontakt zu ihm vermieden, die Vorwürfe aber abgestritten. "Von diesem Tag an bekam ich keinen einzigen Brief mehr."

Folglich denkt Barile darüber nach, rechtliche Schritte gegen den Polizisten einzuleiten. Zwei seiner Anwaltskollegen raten ihm aber von einem juristischen Vorgehen ab. Dazu habe er schlicht zu wenige Beweise. Außerdem warte Piccolo doch mit großer Reputation auf, sei sehr angesehen in der Stadt. Barile hält sich an die Empfehlung und verbannt die rachsüchtigen Gedanken aus seinem Kopf. Bis er von Quagliarellas Geschichte hört.

De Riso, der bis zuletzt nicht glauben kann, dass Piccolo sich hinter dem grausamen Stalker verbirgt, wird nur wenige Tage nach Beendigung des Urlaubs in Scario eines Besseren belehrt. Mitarbeiter des Direzione Investigativa Antimafia, kurz DDA (nationales Kriminalamt zur Bekämpfung der Mafia, Anm. d. Red.), werden in seinem Handyladen vorstellig. Sie machen ihm unmissverständlich deutlich, dass er sie aufs Revier begleiten müsse. Als er dort ankommt erkennt er den neapolitanischen Polizeichef Alberto Berrino. "Ich habe ihm zugelächelt", sagt De Riso. "Ich wusste überhaupt nicht, warum ich da war, bis Berrino mir sagte, dass das DDA seit drei Monaten gegen mich ermittelt."

Anschuldigungen gegen De Riso: Mafia-Kooperation und Prostitutionsnetzwerk

Womit die Ermittler De Riso konfrontieren, ist entsetzlich. Sie klären ihn auf über Briefe, die angeblich belegen, dass er mit der Mafia kooperiere, zusätzlich ein Prostitutionsnetzwerk aus dem Hinterzimmer seines Shops anführe. Beweise finden sie dabei nicht. Aus diesem Grund teilt Berrino De Riso mit, dass er nicht länger als Verdächtiger gelte. Von den Neuigkeiten übermannt und entgegen Piccolos Rat, niemandem von der Sache zu erzählen, unterrichtet er die Beamten über die zahlreichen Briefe und SMS, die ihn und Quagliarella seit geraumer Zeit erreichen, und dass Piccolo in diesem Fall doch ermittele und das Ganze sicherlich in Form von Berichten dokumentiert habe.

"Sie gingen, um die Berichte zu suchen", sagt De Riso. "Kurze Zeit später kamen sie zurück und versicherten: 'Da sind keine Berichte.' Erneute Nachforschungen durch Berrino fördern dasselbe Ergebnis zutage: Keine Berichte. Die Frage nach dem Motiv kommt auf. Was sollte einen derart zuverlässigen, sachlichen Polizisten wie Piccolo zu einer solch schwerwiegenden Tat verleiten? "Hast du seine Frau gefickt?" soll Berrino ihn scherzhaft gefragt haben. "Ich habe seine Frau zweimal in meinem Leben gesehen. Ich kenne sie nicht gut genug, um sie zu ficken."

Berrino und sein Team nehmen sich der Sache an, suchen nach Auffälligkeiten in den Briefen und Nachrichten, die mutmaßlich von ihrem langjährigen Kollegen Piccolo stammen. Es dauert nicht lange, bis sie dank Piccolos Facebook-Profil fündig werden. "Berrino zitierte mich zu sich: 'Achte darauf, wie er schreibt. Er macht nie ein Leerzeichen hinter seinen Kommata.'" Eine kleine orthografische Schwäche, die Piccolo zum Verhängnis wird: In den Briefen und Nachrichten, die De Riso erhalten hatte, findet sich nämlich der gleiche immer wiederkehrende Fehler.

De Riso: "Wir haben ihm komplett vertraut"

Jetzt ist auch De Riso überzeugt, dass sein vermeintlicher Freund und Helfer der Drahtzieher hinter dieser teuflischen Tat ist. "Wir haben ihm komplett vertraut. Er war überzeugend, gab einem plausibel zu verstehen, dass er der richtige Mann für die Ermittlungen ist", sagt er. Quagliarella bestätigt die Schilderungen seines Freundes: "Er bekam es hin, dass ich plötzlich jedem in meinem Umfeld misstraute. Er hat uns angeleitet, uns immer wieder gesagt, was wir tun sollen. Dabei war er derjenige, der dieses Spiel die ganze Zeit kontrollierte - und ich hatte keine Ahnung."

Dass Piccolo der Täter ist, steht mittlerweile für alle Beteiligten fest. Doch wie überführt man einen Mann, der über einen Zeitraum von mehreren Jahren geschafft hat, ein derart perfides Spiel zu inszenieren? Vittorio Quagliarella soll den Spion mimen.