Das Spiel mit der Angst: Als Fabio Quagliarella die Stalking-Hölle auf Erden erlebte

Von Dennis Melzer
Fabio Quagliarella, Neapel
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Piccolo sicher: Freund oder Bekannter der Familie ist der Täter

Mittlerweile ist auch Piccolo mit seinen Recherchen weitergekommen. Der Polizist ist sich sicher, dass es sich bei dem Nachsteller um einen Bekannten der Familie handeln muss. Ein Fremder könne niemals über die große Anzahl persönlicher Informationen verfügen. Quagliarella solle weder seinen Freunden noch seinen Teamkollegen trauen. Belastet durch die Geschichte, über die er nur mit wenigen Menschen reden kann, erlebt er bei Napoli einen rapiden Leistungsabfall.

"Ich war mit dem Kopf ganz woanders", gibt Quagliarella zu. "Ich konnte mich nicht auf meine Arbeit fokussieren, sondern habe mir immer Gedanken darum gemacht, dass ich in Gefahr bin. Ich hatte große Angst, fühlte mich auf Schritt und Tritt verfolgt, wenn ich mich draußen aufhielt. Es war eine Situation, die dich fertig macht."

Vor allem die Pädophilie-Vorwürfe setzen ihm enorm zu. Obwohl er selbst um seine Unschuld weiß, zerbricht er sich den Kopf. Wenn dahingehende Gerüchte im Internet kursieren, denken die Menschen doch, dies sei wahr. "Ich habe viel geweint", sagt Quagliarella. "Das ist mir überhaupt nicht peinlich. Ich konnte einfach nicht verstehen, wer mir und meiner Familie so etwas antut."

Zudem verdichten sich die Anzeichen, dass sein Arbeitgeber Wind von der Sache bekommen hat. Ein Indiz für Quagliarellas Annahme ist ein mysteriöser Anruf von Napoli-Boss Aurelio De Laurentiis, der ihm nahelegt, ins nähere Umfeld des Stadions zu ziehen. "Dort ist es ruhiger und du kannst dich besser auf den Fußball fokussieren", habe De Laurentiis begründet. Warum Quagliarella stutzig wird? Ihm zufolge hätten seine Mitspieler Luigi Vitale und Gennaro Iezzo gleich bei ihm um die Ecke gewohnt und seien nicht mit einem ähnlichen Vorschlag seitens des Chefs konfrontiert worden.

In seinem Verdacht, der Verein könnte informiert worden sein, bestärkt wird Quagliarella aufgrund eines Briefes, der bei seinem Freund De Riso eingeht. Auf dem Umschlag ist zwar dessen Adresse angegeben, der Inhalt ist allerdings an De Laurentiis adressiert, schildert, dass De Riso Treffen zwischen Quagliarella und der Camorra organisiert habe, die angeblich ihre schützende Hand über Quagliarella halten würden. Auf Anfrage von Bleacher Report, ob damals auch bei Napoli eine Kopie des Schriftstückes eingegangen ist, möchte sich der Klub nicht äußern.

Ein Wechsel zu Juventus mit Folgen

In der Hoffnung, dass der Horror ein Ende findet, wenn er seiner Heimat den Rücken kehrt, entscheidet sich Quagliarella für einen folgenschweren Wechsel - ausgerechnet zum verhassten Rekordmeister Juventus. Zunächst verpflichtet die Alte Dame ihn auf Leihbasis, ein Jahr darauf, im Sommer 2011, ziehen die Bianconeri die Kaufoption, die sich auf 10,5 Millionen Euro beläuft. "Für die Napoli-Fans wurde ich vom Idol zum Verräter. Die Leute dort haben mich nicht länger geliebt", sagt er.

"Vom Idol zum Verräter": Quagliarella wechselte von Napoli zu Juventus.
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"Vom Idol zum Verräter": Quagliarella wechselte von Napoli zu Juventus.

Die Anhänger gehen davon aus, dass Quagliarella aus Geldgier handelt, beschimpfen nicht nur ihn übel bei Facebook, sondern auch seine Mutter, die sich anhören muss, dass sie eine Hure sei. Da Piccolo mit seinen Ermittlungen immer noch nicht am Ziel ist, kann Quagliarella die Öffentlichkeit nicht über die wahren Gründe seiner "Flucht" in Kenntnis setzen. "Ich bin gegangen, aber die Leute wussten nicht, warum. Es herrschte völliges Chaos in Neapel, nachdem ich weg war."

Quagliarellas Glaube, der Stalker könne möglicherweise das Interesse verlieren, sobald er nicht mehr in Napoli ist, zerschlägt sich bald. Stattdessen torpediert der Unbekannte ihn weiter mit Nachrichten. Ein Jahr ist bereits ins Land gegangen, seit Piccolo den Fall übernommen hat, ohne einen Verdächtigen zu präsentieren. "Er sagte mir, dass das Ende dieses Albtraums nah sei, dass er den Täter bald dingfest machen würde", sagt Quagliarella und verrät: "Die Hoffnung, herauszufinden, wer hinter all dem steckt, war größer als das Bestreben, aufzugeben."

Aufgrund der großen Distanz stehen er und Piccolo allerdings lediglich in losem Mailkontakt, telefonieren ab und zu. Quagliarella stellt trotzdem fest, dass Piccolo immer häufiger nach Eintrittskarten oder unterschriebenen Trikots fragt. "Er hat mir immerhin bei meinem Problem geholfen, deshalb kam ich seinen Wünschen nach." Vittorio, Quagliarellas Vater, trifft sich allerdings regelmäßig mit dem Polizisten. Piccolo gesteht ihm eines Tages, dass nun auch er ins Fadenkreuz des Stalkers geraten sei. Vermutlich, weil er der Familie helfe. Auch er erhalte mittlerweile anonyme SMS. Ein Zeichen dafür, dass er ganz nah dran sei. Als Vittorio die Nachrichten sehen will, schwört Piccolo, er habe sie gelöscht.

Quagliarellas Vater äußert Verdacht

Vittorio wird misstrauisch. Welcher seriöse Polizist beseitigt denn offensichtliches Beweismaterial? "Mein Vater rief mich an und sagte: 'Ich denke, es ist Piccolo'", erinnert sich Quagliarella im Gespräch mit Mediaset. "Ich habe ihm gesagt, dass er runterkommen soll, dass wir alle aufgrund dieser höllischen Situation gestresst sind und dass er von allen Leuten, nicht ausgerechnet Piccolo verdächtigen soll."

Im Sommer 2010 bringt ein schicksalhaftes Treffen endlich Licht ins Dunkel. Giovanni Barile, ein Rechtsanwalt aus Quagliarellas Heimatstadt Castellmare di Stabia und ehemaliges Mitglied der Napoli-Ultras, kennt Quagliarella über De Riso und ist über die Jahre zu einem guten Freund geworden - trotz dessen aufsehenerregenden Wechsels zu Juventus. Die drei Kumpel beschließen, die sonnige Jahreszeit in Bariles Sommerhaus an der Küste Kampaniens einzuläuten. Quagliarella packt seine damalige Freundin und seine Eltern ein und fährt mit seiner neuen Yacht den Golf von Neapel in Richtung Süden, um De Riso, dessen Frau und Kinder sowie Familie Barile zu besuchen.

Im Rahmen des Urlaubs verbringen De Riso, Barile und Quagliarella einen sonnigen Tag auf Quagliarellas Boot. Die Kumpanen tanzen, singen, sind sorglos. So unbefangen, dass sie die Zeit vergessen und erst um 19:30 zu Bariles Haus zurückkehren, wo ein zorniger Vittorio auf die Jungs wartet. Die drei hatten verschwitzt, dass ein gemeinsames Abendessen ausgemacht war, das bereits eine Stunde vorher stattfinden sollte. "Fabios Vater ist ein schroffer Mann - aber auf eine sympathische Art. Er legt sehr viel Wert auf Pünktlichkeit", erzählt Barile. "Er war sehr wütend. Ich nahm eine Dusche und Fabios Vater fragte: 'Warum kommt ihr erst so spät?' Fabio beichtete, dass wir einfach nur abgehangen haben, Musik hörten und tanzen."

Eine Antwort, die Vittorio offenbar noch ärgerlicher stimmt als die Verspätung. "Dann musst du dich nun wirklich nicht beschweren, dass du anonyme Briefe bekommst. Vielleicht stand irgendjemand auf einem Haus und musste nur nach unten schauen, um dich tanzen zu sehen. Dann muss derjenige nur ein Foto machen, das dich beim Tanzen zeigt", wird Quagliarellas Vater von Barile zitiert.

Der Nebel lichtet sich

Barile wird sofort hellhörig. "Welche Art von Briefen bekommst du", fragt er Quagliarella. Der fasst den Entschluss, Piccolos Anweisungen zu missachten und bricht sein Schweigen. Er weiht Barile vollumfänglich ein, erzählt von den ihm vorgeworfenen Verbindungen zur Mafia.

Barile unterbricht: "Wie sieht es aus mit Pädophilie-Anschuldigungen und angeblichem Drogenmissbrauch?" Auch De Riso steigt nun ins Gespräch ein, erzählt Barile, dass er mit ähnlichen Briefen und Nachrichten belästigt wurde. Barile klärt die Anwesenden darüber auf, dass er schon fünf Jahre zuvor selbst von einem Unbekannten mit der gleichen Masche zermürbt wurde. Der Terror habe aber plötzlich, nämlich im Frühling 2010, ein abruptes Ende gefunden. "Wir haben uns über die Ähnlichkeiten der Briefe ausgetauscht", sagt Barile, der die Bombe plötzlich platzen lässt: "Ich habe eine Idee, wer dahinterstecken könnte."

Das undurchsichtige Netz entwirrt sich, als er von seiner Verbindung zu Piccolo erzählt, den er bereits aus seiner Schulzeit kennt. "Er war eine schüchterne Person, hatte keine Freunde, war ein sehr stiller Junge. Im Gegensatz zu den anderen Kindern hatte er kein soziales Leben", führt Barile bei Bleacher Report aus. Nach dem Abitur verliert er seinen einstigen Schulkameraden aus den Augen. Bis zum Jahr 2005, jenem Jahr, in dem die mysteriösen Nachrichten sein Leben verändern sollten.

Barile arbeitete zu diesem Zeitpunkt in einer Kanzlei bei einer Rechtsanwältin namens Simona de Simone. Sie ist mit Piccolo verheiratet, das Paar hat zwei gemeinsame Kinder. Irgendwann bekommen die Mitarbeiter der Kanzlei merkwürdige Briefe. Demnach sollen die Angestellten untereinander wilde, außereheliche Beziehungen gepflegt haben. Barile sagt, dass ihn zahlreiche dieser Botschaften im Büro und zuhause erreichten. De Simone, Piccolos Frau, wurde als separates Ziel ausgemacht. In der Lobby prangte eines Tages in riesigen, mit Graffiti gesprühten Lettern: "SIMONA DE SIMONE IST EINE HURE!"