Der Weg der Selbstbestimmung

Von Niccolo Schmitter
Domenico Berardi steht sinnbildlich für die Philosophie von Sassuolo
© getty

Nicht selten schaffen kleine Vereine wie Carpi, Frosinone oder Crotone den Sprung in die Serie A. Nach einem Jahr muss man aber üblicherweise wieder Abschied nehmen. Nicht so bei der kleinsten Stadt, der jemals der Sprung in die erste Liga geglückt ist: US Sassuolo Calcio. Der Provinzverein hält sich seit 2013 wacker in der Serie A und erreichte nun sogar die Europa League. Über das italienische Nachwuchsproblem, ein ambitioniertes Projekt und den alternativen Weg aus Emilien.

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Der italienische Fußball hat ein Problem. Ein großes Problem. Ein Nachwuchsproblem. Die überraschend starke Europameisterschaft der Squadra Azzurra kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Italien den Weltmeistern von 2006 keine gebührenden Erben nachfolgen ließ. Auch Antonio Conte bezeugte seinem Land ein "Generationsproblem."

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Mit der Ernennung von Giampiero Ventura als neuen Nationalcoach bewies der italienische Verband zumindest, dass er die Zeichen der Zeit erkannt hat. Ventura ist ein Förderer der Jugend und des temporeichen Fußballs. Zahlreichen Kickern gelang unter ihm bereits der Durchbruch.

Diese besorgniserregende Entwicklung ist in Italien freilich nicht erst seit gestern bekannt. So sorgte Carlo Tavecchio, heute Präsident der FIGC, vor zwei Jahren mit einer Aussage für einen Eklat. "Zu uns kommt ein, sagen wir 'Opti Poba', der bislang Bananen gegessen hat und jetzt plötzlich bei Lazio in der Startelf steht und das geht dann so klar", empörte sich der damalige Präsident des Amateurfußballs. Klammert man den blanken Rassismus aus, der sich hinter der Äußerung verbirgt, so steckt darin doch ein wahrer Kern.

Maßnahmen der FIGC eine Farce

In den italienischen Profiligen tummeln sich unzählige ausländische Spieler, vor allem aus Afrika und Südamerika, die zumeist von Vereinen aus der Serie A günstig verpflichtet werden - um dann auf dem Stiefel hin und her verliehen zu werden. Irgendwann wird der Durchbruch schon erfolgen, lautet die Devise. Irgendwann kehren die Spieler ablösefrei in ihre Heimat zurück, lautet oft das Resultat.

Auf der Strecke bleibt dabei der italienische Nachwuchs, der von einer Förderung wie in Deutschland nur träumen kann. Vor allem in der höchsten Spielklasse kriegen heimische Talente kaum eine Chance, sich zu beweisen. Im Vorfeld der vergangenen Saison stellte die FIGC zwar Regeln auf, die die Vereine aus der Serie A dazu zwang, mindestens vier Spieler aus dem eigenen Nachwuchs und vier weitere aus den Jugendabteilungen anderer italienischer Vereine im Kader zu haben. Schaut man sich aber den Ausländeranteil dieser Klubs an, kann man diese Maßnahme nur als Farce bezeichnen.

Im Kader von Lazio Rom befinden sich zu diesem Zeitpunkt 25 Legionäre, bei Udinese Calcio sind es 24 und auch Inter hat mit 22 Ausländern die Transferperiode beendet. Insgesamt liegt der Ausländeranteil in der Serie A bei fast 57 Prozent.

Das gallische Dorf

Es gibt jedoch einen Klub, der sich der unrühmlichen Entwicklung des Calcio seit Jahren entgegenstellt. Ein Verein aus einem Provinzstädtchen von gerade mal 40.000 Einwohnern. Ein Verein, der für seine Heimspiele ins rund 30 km entfernte Reggio Emilia umziehen muss. Ein Verein, der gerade mal vier Legionäre in seinen Reihen weiß. Das gallische Dorf der Serie A: US Sassuolo Calcio.

Die Gründung des kleinen Klubs aus Emilien erfolgte zwar schon 1920, erstklassigen Fußball schnuppert man dort jedoch erstmals seit 2013. Auch davor war Sassuolo alles andere als ein Bekannter des professionellen Fußballs. 2008 gelang zum ersten Mal überhaupt der Aufstieg in die zweite Liga. Danach etablierte man sich Schritt für Schritt in der Serie B, um schließlich als Meister den direkten Aufstieg zu feiern.

Zu verdanken hat man diese Entwicklung unter anderem Giorgio Squinzi, einem Bauchemieunternehmer aus der Region, der 2002 Besitzer des Vereins wurde. Squinzi gab den Startschuss zum Angriff auf die höheren Ligen und stellte Mittel zur Verstärkung des Kaders zur Verfügung. Über die Jahre kristallisierte sich so auch die Philosophie des Klubs heraus. Man setzte auf nachhaltiges Wirtschaften sowie junge, entwicklungsfähige und in erste Linie italienische Spieler.

Symbol dieses Credos ist Eigengewächs Domenico Berardi, dem bereits als 18-Jähriger eine hohe Verantwortung zuteilwurde. Heute ist Berardi 22 Jahre alt und Rekordtorschütze seines Klubs. Auch der gebürtige Münchner Nicola Sansone wechselte 2014 zu Sassuolo und wurde nun für 13 Millionen Euro vom FC Villarreal verpflichtet.

Vom Abstiegskampf in die Europa League

Mit Eusebio Di Francesco haben die Neroverdi zudem ihren perfekten Coach gefunden. Der juvenil aussehende Aufstiegstrainer hat einen guten Draht zu seinen Youngstern. Di Francesco lässt in einem offensiven 4-3-3 schnellen und vertikalen Fußball spielen und schöpft so die jugendliche Frische seiner Spieler voll aus.

Unter ihm etablierte sich der Klub in der Serie A. Während man in der Debüt-Saison noch haarscharf am Abstieg vorbeischrammte, landete man in der folgenden Spielzeit auf einem respektablen 12. Platz - und überraschte das Land 2015/16 mit dem Einzug in die Europa League-Qualifikation, durch die der Klub letztlich problemlos durchmarschierte. Trotz des angeblichen Interesses des AC Milan und der Fiorentina verlängerte Di Francesco seinen Vertrag im April bis 2019 und verschrieb sich voll dem Projekt US Sassuolo.

Der Weg der Selbstbestimmung

Denn der Verein verfolgt nicht nur einfach eine Philosophie. In Emilien ist man ambitionierter. Im Januar 2016 gab der Verein den Startschuss für das Projekt La Giovane Italia (Das junge Italien). Das Ziel ist nicht weniger, als in Sassuolo eine neue Spielergeneration heranreifen zu lassen, die an die Erfolge der Altmeister anknüpfen kann. "Gewollt ist, dass das Spiel wieder im Zentrum des Projekts steht und dabei den Jungen frei steht, den Fußball von einem spielerischen Standpunkt aus zu interpretieren, weit weg von all dem Druck", erklärte der verantwortliche Paolo Ghisoni bei der Vorstellung.

Als Motto des Projekts kann man gut und gerne "back to the roots" verwenden. Die Denker hinter dem Vorhaben orientieren sich nämlich an den Lebensläufen der Altstars, die das Kicken noch auf der Straße kennen gelernt haben. So soll das Leben der Youngster nicht wie in den Nachwuchsleistungszentren streng reglementiert werden. "Der Weg der Selbstbestimmung ist der, den man verfolgen muss", erläuterte Ezio Glerean.

Der Ex-Profi verfasste das Buch Il Calcio e l'isola che non c'è (Der Fußball ist die Insel, die es nicht gibt), ein Manifest für die Renaissance des italienischen Fußballs. Das Werk dient nun als Leitlinie für das Projekt von Sassuolo.

Mit neun Italienern zum Favoritensturz

Glerean ist überzeugt, dass man den Jungen Freiheiten geben müsse, die Initiative überlassen und Fehler als didaktische Grundlage begrüßen solle. Dies lasse die Nachwuchsspieler nicht nur als Techniker reifen, sondern vor allem als Persönlichkeiten. "Manchmal ist es schwierig, die Bedeutung des Calcio zu übermitteln, weil die Trainer sehr oft nur daran denken, das nächste Spiel zu gewinnen", beklagte Francesco Palmieri, Chef der Nachwuchsabteilung. "Wir wollen eine andere Nachricht übermitteln [...]. Die vordergründige Botschaft ist die Entwicklung dieser Jungs, um ihnen die Wichtigkeit des Spiels beizubringen und nicht einfach das Resultat als solches."

Es wird selbstverständlich noch eine lange Zeit dauern, bis die Früchte dieses Projekts reif zur Ernte sind. Ein Vorgeschmack lässt sich allerdings schon Woche für Woche betrachten. So wie auch zwei Spieltage vor der offiziellen Verkündung ihres ambitionierten Projekts. An jenem Tag stieß das kleine Sassuolo das große Inter im San Siro von der Tabellenspitze; Berardi sorgte für den Treffer des Tages. Bei den Neroverdi standen dabei neun Italiener in der Startelf. Und bei Inter? Ein Einziger.

US Sassuolo in der Übersicht

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