PSG-Star Julian Draxler im Interview: "Ich musste mir von meinen Nachbarn anhören, dass ich scheiße bin"

Von Daniel Herzog
SPOX und DAZN trafen Julian Draxler zum Interview.
© DAZN
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Am 15. Januar 2011 haben Sie Ihr Bundesliga-Debüt gefeiert. Inwiefern hatte sich das zuvor angedeutet?

Draxler: Ich wurde damals ins Trainingslager nach Belek eingeladen. Dort hatte ich dann ungefähr zehn Tage, um die Verantwortlichen von meiner Tauglichkeit für die erste Mannschaft zu überzeugen. Ab und zu habe ich dann in der A-Elf neben Raul trainiert, auch die Testspiele liefen ganz gut. Da habe ich schon geahnt, dass Felix Magath mit mir etwas ausprobieren möchte. Sicher sein konnte ich mir aber nicht. Er war kein Trainer, der dich in den Arm genommen und dir erzählt hat, was er mit dir vorhat.

Also war er wirklich der harte Hund?

Draxler: Das kann man schon so sagen, sein Verhältnis zur Mannschaft war distanziert. Hin und wieder gab er dir einen kleinen Wink, dass er gerade zufrieden ist, aber das war die absolute Ausnahme. Du hängst bei ihm tendenziell eher in der Luft, musst stabil in der Birne sein und dein Ding machen.

Wie ging es nach dem Trainingslager weiter?

Draxler: Wir sind aus Belek direkt ins Mannschaftshotel gefahren, weil das Spiel gegen Hamburg anstand. Ein, zwei Tage zuvor saß ich abends in meinem Hotelzimmer und habe mir Gedanken gemacht, ob ich wohl im 18er-Kader stehen könnte. Ich habe mir Zettel und Stift geschnappt und alles aufgeschrieben: Maximal sechs Spieler für die Verteidigung, vier für die Startelf, zwei für die Bank. Dasselbe Spiel fürs Mittelfeld und den Sturm. Ich habe geschaut, wer verletzt und wer gesperrt ist. So habe ich alle möglichen Varianten durchgespielt. Ehrlich gesagt war ich danach aber auch nicht schlauer.

Und dann?

Draxler: Ich war ja erst 17 und weiß noch, dass meine Eltern damals nach der Landung in Düsseldorf gefragt haben, ob sie mit mir rechnen können. Nur wusste ich in dem Moment selbst nicht, ob ich ins Teamhotel nach Duisburg oder nach Hause fahre. Nachdem wir ausgestiegen waren, kam der damalige Co-Trainer Seppo Eichkorn zu mir und sagte: 'Du steigst in den Bus.' Erst als ich gesehen habe, dass Raul und andere Stammspieler ebenfalls eingestiegen sind, war mir klar, dass ich wohl im Kader stehe. Als wir im Hotel waren, habe ich gleich meinen Papa angerufen: 'Hey, ich bin im Mannschaftshotel. Ich stehe im Kader.' Etwas später habe ich dann gemerkt: Moment mal, wir sind mit 20 Spielern im Hotel, im Kader stehen aber nur 18. Dann fing alles vorne an und ich saß wieder mit Zettel und Stift auf meinem Zimmer.

Julian Draxler: "Danach war in meinem Leben nichts mehr wie zuvor"

Wann hatten Sie Klarheit?

Draxler: Wir haben am nächsten Morgen nochmal trainiert. Anschließend kam Felix Magath zu mir und sagte: 'Es kann sein, dass du heute reinkommst. Sei vorbereitet.' Ich war total aufgeregt, das Aufwärmen auf dem Platz ist ja schon geil. Du siehst erstmals hautnah die ganzen Abläufe rund um ein Bundesligaspiel. Das Spiel selbst lief dann katastrophal. Da hat sich Felix Magath wahrscheinlich gedacht: Schlechter kann es der Julian auch nicht machen - und dann bin ich eben nach 83 Minuten für Ivan Rakitic eingewechselt worden. Obwohl wir 0:1 verloren haben, war das auf jeden Fall einer der schönsten Tage meines Lebens. Da platzt du einfach vor Stolz.

Und es wurde noch besser: Nur zehn Tage später wurden Sie im Viertelfinalspiel des DFB-Pokals gegen den 1. FC Nürnberg nach 116 Minuten für Peer Kluge eingewechselt - und erzielten in der 119. Minute den Siegtreffer.

Draxler: Das war Hollywood. Drei Tage zuvor hatte ich in Hannover mein Startelfdebüt gegeben. Das war eigentlich kein besonderes Spiel, ich habe auch nicht besonders gut gespielt, aber es war schon verdammt cool, weil wir 1:0 gewonnen haben und es mein erster Sieg mit Schalke war. Und dann eben Nürnberg. Danach war in meinem Leben nichts mehr wie zuvor.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Momente nach dem Spiel?

Draxler: Daran habe ich tausende Erinnerungen. So ein Erlebnis wirst du nie vergessen. Wenn ich mir heute das Interview angucke, das ich nach dem Spiel gegeben habe, erkenne ich mich kaum wieder. In dem Moment wusste ich gar nicht, wohin mit mir und habe versucht, irgendwie einen auf professionell zu machen. Aber ich war 17, am liebsten hätte ich den Kameramann umarmt. Am nächsten Tag sollte ich zur Schule, da habe ich gesagt: 'Ich geh' doch nicht zur Schule.' Es waren tausend Sachen auf einmal. Das Tor hat alles verändert.

Sie sind in Ihrer ersten Saison DFB-Pokalsieger geworden, haben im Halbfinale der Champions League gegen Manchester United gespielt. Wie kann ein Siebzehnjähriger das verarbeiten?

Draxler: Natürlich ist das schwierig. Ich glaube zwar, dass mir das relativ gut gelungen ist, aber nur, weil ich meine Familie hatte. Mir wurde immer wieder gesagt: Bleib ruhig, entspann dich, dreh nicht durch, arbeite weiter, das ist nur der Anfang. Wenn du all das erlebst mit 17, wenn du den Pokal gewinnst und im Finale ein Tor machst, wenn du gegen Inter Mailand 5:2 im San Siro gewinnst und im Halbfinale im Old Trafford spielst, denkst du dir natürlich schon: Okay, Fußball läuft. Dass du dich dann auch mal für den Größten hältst, ein, zwei Prozent weniger gibst und meinst, es würde schon alles von selbst laufen, ist ganz normal. Trotzdem würde ich sagen, dass ich den ganzen Trubel ganz gut verarbeitet habe. Ich bin zumindest nicht völlig größenwahnsinnig geworden.

Wie sieht eine Phase konkret aus, in der man sich für den Größten hält?

Draxler: Es gab bei mir ein halbes Jahr, in dem ich ein bisschen weniger trainiert und auch mal gesagt habe: Es ist ja nur Training. Das war zuvor für mich jahrelang undenkbar. Wenn du ein halbes Jahr nachdem du deinen ersten Profivertrag unterschrieben hast, einen neuen Vertrag unterschreibst, durch den du plötzlich das Zehnfache verdienst, ist das nicht leicht zu verarbeiten. Du glaubst, es wäre ein Selbstläufer. Du wirst nachlässig. Und sobald du im Training ein, zwei Prozent weniger gibst, fängst du auch an, im Spiel deine Gegenspieler zu unterschätzen. Die wiederum wissen jetzt, was du kannst, und passen besser auf dich auf. Ein, zwei gute Spiele zu machen und ein nettes Tor zu schießen, ist das eine. Es ist aber viel schwieriger, sich auf dem Niveau zu halten. Fußballspielen können in der Bundesliga alle. Das ist nicht mehr wie in der B- oder A-Jugend. Im bezahlten Fußball fressen sie dich mit Haut und Haaren auf, wenn du nicht voll da bist. Das habe ich relativ schnell begriffen - und deswegen bin ich aus der Schwächephase wieder herausgekommen.

SPOX und DAZN trafen Julian Draxler zum Interview.
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SPOX und DAZN trafen Julian Draxler zum Interview.

Julian Draxler: "Früher konnte ich Raul um Rat fragen"

Nachdem Raul den Verein verlassen und Jefferson Farfan sich verletzt hatte, war Julian Draxler plötzlich der Mann, der alles machen sollte.

Draxler: So ungefähr. Wenn du mit Raul, Huntelaar und Farfan auf dem Platz stehst, müssen sich die meisten Gegner auf diese Jungs konzentrieren. Du hast dann auf der linken Seite deine Freiräume, keiner erwartet etwas von dir. Du hast zwei, drei gute Aktionen und jeder sagt: Der Junge ist talentiert, der kann was. Das reicht dir im ersten Moment. Wenn du aber deinen Vertrag verlängerst und die Leute wissen, dass du mehr Geld verdienst und die Zukunft von Schalke 04 sein sollst, steigen die Erwartungen. Das bist du nicht gewohnt. Früher konnte ich Raul um Rat fragen, mit ihm darüber reden, wie man mit gewissen Dingen umzugehen oder sich in gewissen Situationen zu verhalten hat. Aber auf einmal war keiner mehr da. Ich war alleine. Anfangs habe ich gedacht, ich bräuchte niemanden und wüsste, wie es funktioniert. Aber mit 19 weißt du gar nichts. Wenn du das erste Mal in so eine Situation kommst, bist du überfordert. Das war bei mir der Fall.

Wie hat sich das konkret geäußert?

Draxler: Solange du gut spielst und Tore machst, läuft alles von selbst. Wenn aber zum ersten Mal ein verlorenes Spiel an dir persönlich festgemacht wird, bist du plötzlich einem ganz anderen Druck ausgesetzt. Du nimmst deine Umgebung anders wahr, schaust ständig nach links und rechts. Auch im Privatleben. Hinzu kam damals meine persönliche Situation.

Inwiefern?

Draxler: Ich war zuhause ausgezogen, lebte mit meinem Bruder zusammen und sah meine Eltern nicht mehr so oft wie früher. Bei gewissen Dingen oder kleinen Problemen hatte ich mit 19 nicht die Reife, um so etwas schnell zu klären oder aus der Welt zu schaffen. Es gab zum Beispiel Situationen, in denen meine Mama gesagt hat, sie würde mich kaum noch sehen. Ich wollte in dem Moment aber lieber ausgehen oder ein bisschen in Düsseldorf feiern. Eben Dinge machen, die ganz normal sind für einen 19-Jährigen. Da war ich einfach noch nicht so weit, um solche Situationen sofort mit einem klärenden Gespräch wieder in Reih und Glied zu bringen. Stattdessen läufst du gegen eine Wand. Nachdem du gegen die Wand gelaufen bist, wachst du irgendwann auf und weißt wieder, worauf es wirklich ankommt. Diese Erfahrung möchte ich nicht missen.

War es für Sie besonders schwierig, mit der Erwartungshaltung umzugehen, weil Schalke Ihr Herzensverein ist?

Draxler: Natürlich. Schalke war für mich kein Arbeitgeber wie jeder andere. Es waren viele Augen auf mich gerichtet. Wenn wir verloren haben, musste ich mir nicht nur von den Fans anhören, dass ich scheiße bin, sondern auch von meinen Nachbarn, meiner Familie und den Freunden meiner Familie. Ich war zum Beispiel auf dem Geburtstag meines Onkels. Da saß dann jemand, der immer in der Nordkurve steht und mir plötzlich - auf gut Deutsch gesagt - erzählte, was für ein Arschloch ich doch bin. Das ist eben Ruhrpottsprache. Da nimmt man kein Blatt vor den Mund. Den Menschen ist in dem Moment egal, ob du erst 19 Jahre alt bist und noch in der Entwicklungsphase steckst. Gleichzeitig haben die Menschen ein sehr gutes Gespür dafür, ob du gerade auf dem Platz wirklich zu hundert Prozent da bist oder ob du Flausen im Kopf hast. Anfangs nimmst du als Teenager eher eine Abwehrhaltung ein und denkst dir: Was willst du mir eigentlich erzählen? Ich weiß schon, wie der Hase läuft. Aber im Nachhinein merkst du, dass die Leute meistens recht hatten.

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