Victor Osimhen vom OSC Lille: Wasserverkäufer, blutiges Auge wegen Terry und Malaria

Von Dennis Melzer
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© getty

Victor Osimhen startet beim OSC Lille durch. Wie ein Terry-Fehlschuss einen Traum manifestierte und eine schwere Erkrankung beinahe alles zerstörte.

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Moskau, 21. Mai 2008, strömender Regen. John Terry sitzt auf dem Rasen, das Gesicht verzweifelt gen selbigen gerichtet. Er, der Kapitän des FC Chelsea, die personifizierte Verlässlichkeit, hatte wenigen Augenblicke zuvor den Champions-League-Sieg per fünftem und somit letztem Versuch im Elfmeterschießen auf dem Fuß. Er scheiterte. Der glitschige Rasen ist ihm zu Verhängnis geworden, die Bilder des wegrutschenden Terrys gehen um die Welt. Weil später auch sein Kollege Nicolas Anelka verschießt, steht Manchester United auf dem Thron. Bittere Blues-Tränen statt Henkelpott.

9000 Kilometer entfernt, im nigerianischen Lagos, leidet der damals neunjährige Victor Osimhen mit. Er sieht das Drama in einer Bar am TV-Gerät. "Ich habe die Champions League geschaut und erinnere mich an das Finale zwischen Chelsea und Manchester United", sagte er jüngst im Gespräch mit France Football. "Ich war nicht unbedingt für oder gegen eine der beiden Mannschaften, aber als John Terry diesen Elfmeter verschoss, stürmte ich aus der Bar", verriet er weiter.

"Im gleichen Moment öffnete eine Frau die Tür und haute sie mir direkt vor mein Gesicht. Mein Augenlid platzte auf und ich habe ziemlich heftig geblutet." Ein prägender Moment, der das Leben des Jungen nachhaltig verändern sollte. "Als sie dabei waren, meine Wunde zu nähen, hab ich mir geschworen: 'Sollte ich mit dieser Leidenschaft, die ich für den Fußball aufbringe, nicht Profi werden, werde ich mir das niemals vergeben.'" Ein Wunsch, der - so darf man konstatieren - letztlich in Erfüllung ging. Trotz eines steinigen Weges, der von einigen Rückschlägen geprägt war.

Schon früh bekam der Angreifer die Schattenseiten des Lebens zu spüren. Seine Mutter starb, als Osimhen noch klein war, kurz nach ihrem Tod verlor der Vater seinen Arbeitsplatz. Victor und seine Geschwister waren fortan dafür zuständig, das Überleben zu sichern.

Osimhen: Am rechten Fuß ein Nike-Schuh, am linken Fuß Reebok

Er verkaufte Wasser in den hektischen Straßen der 22-Millionen-Metropole, der Bruder bot Sportzeitungen an, während seine Schwester mit Orangen handelte. Die Einnahmen reichten für Essen und Trinken, aber längst nicht, um neue Fußballschuhe zu kaufen. Dementsprechend suchte Osimhen auf Müllhalden nach gebrauchten Kickstiefeln. "Manchmal kam es vor, dass du am rechten Fuß einen Nike-Schuh trugst und wenn du auf den linken Fuß geschaut hast, war dort einer von Reebok", erinnerte er sich. "Meine Schwester hat die Schuhe in Ordnung gebracht, das war gut. Es ging bei uns schlicht ums Überleben."

Seine fußballerische Vereinskarriere startete Osimhen bei den Ultimate Strikers, einer Akademie in Lagos. Dort kristallisierte sich sein Talent schnell heraus, sodass er im Jahr 2015 für die U17-Weltmeisterschaft in Chile berücksichtigt wurde. Nigeria marschierte durch und bezwang im Finale die Auswahl Malis mit 2:0. Mit beeindruckenden zehn Treffern avancierte Osimhen zum Torschützenkönig und spielte sich somit in den Fokus europäischer Klubs. Letztlich setzte sich der VfL Wolfsburg gegen zahlreiche Nebenbuhler, darunter auch der FC Arsenal und Inter Mailand durch, zahlte 3,5 Millionen Euro an die Ultimate Strikers.

Vom gefeierten Neuzugang zum Null-Tore-Flop

Mit Blick auf die namhafte Konkurrenz im Werben um Osimhen wurde der Deal, der im Sommer 2017 über die Bühne ging, als echter Transfercoup deklariert. Folglich mit einer Menge Vorschusslorbeeren im Gepäck schlug Osimhen in der Autostadt auf, konnte diese allerdings nicht bestätigen. Nach der Saison 2017/18 standen 16 zumeist Kurzeinsätze zu Buche, wobei dem Rohdiamanten kein einziges Tor gelang.

Die kurze, bis dato märchenhafte Laufbahn war jäh ins Stocken geraten, Wolfsburg wollte Osimhen nach nur einer Spielzeit wieder loswerden. Im RSC Charleroi fand der Bundesligist einen Abnehmer. Allerdings erst, nachdem der Youngster eigentlich bei Club Brügge anheuern sollte, aufgrund einer schweren Erkrankung aber schließlich doch nicht bei dem belgischen Spitzenklub unterkam. "In Wolfsburg ist es für Osimhen nicht so gelaufen, wie sich das die Beteiligten vorgestellt hatten", erklärte Charleroi-Geschäftsführer Mehdi Bayat im Interview mit France3 und schob hinsichtlich des geplatzten Transfers zu Brügge nach: "Victor hatte sich damals Malaria eingefangen und war in keiner guten Verfassung. Als Osimhen seinen Medizincheck in Brügge absolvierte, haben sie deshalb Abstand von einer Verpflichtung genommen - das war unsere Chance."

"Lille wird ihn zu seinem neuen Rekordabgang machen"

In Charleroi sollte er dann platzen, der sinnbildliche Knoten. 20 Tore steuerte Osimhen wettbewerbsübergreifend bei, entwickelte sich zum absoluten Leistungsträger für die Südbelgier. Da Charleroi eine Kaufoption über 3,5 Millionen Euro für Osimhen mit Wolfsburg ausgehandelt hatte, schlugen die Verantwortlichen um Bayat zu, um den Torjäger nach nur einem Monat für beinahe das Vierfache weiterzuverkaufen. Der OSC Lille, der kurz zuvor Star-Spieler Nicolas Pepe für 80 Millionen Euro an Arsenal verkauft hatte, zahlte zwölf Millionen Euro. "Wir hatten zwar finanziell lukrativere Angebote auf dem Tisch, aber Victor wollte unbedingt zu Lille", sagte Bayat und prophezeite: "Lille ist für ihn nur eine Durchgangsstation, so wie es auch Charleroi war. Er wird wechseln und Lille wird ihn zu seinem neuen Rekordabgang machen. So wie sie es mit Pepe gemacht haben. Aber Osimhen wird meiner Meinung nach noch teurer."

Dass Osimhen seinen neuen Arbeitgeber schon bald wieder für viel Geld verlassen könnte, ist tatsächlich gar nicht so unwahrscheinlich. Vor allem, wenn man sich die bisherige Torausbeute zu Gemüte führt: Acht Treffer in elf Pflichtspielen, zuletzt sicherte er Lille im Liga-Spiel gegen Nimes kurz vor Schluss noch einen Punkt. "Wir wollten verstehen, warum er in Wolfsburg so große Probleme hatte", sagte LOSC-Präsident Gerard Lopez. "Dabei berücksichtigten wir nicht nur die Statistiken, sondern waren im Austausch mit ihm und seinem Umfeld. Wir haben dann schnell gemerkt, dass wir mit ihm einen der talentiertesten Angreifer der Welt unter Vertrag nehmen können. Er war krank und hatte Verletzungen, aber er hatte es definitiv noch in sich."

Das stellte Osimhen nicht nur in der Liga, sondern Anfang des Monats auch in der Königsklasse unter Beweis. Gegen Chelsea feierte er sein Champions-League-Tordebüt. Ausgerechnet, möchte man beinahe sagen. Gegen jenen Klub, der ihm einst unfreiwillig ein blutiges Augenlid bescherte - und dabei gleichzeitig seine große Leidenschaft für den Fußball zutage treten ließ.

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