OSC Lille: Wie in Trance

Von Jochen Tittmar
Der OSC Lille feierte den Doublesieg 2011 wie es sich in Frankreich gehört mit reichlich Champagner
© Imago

Nach 56 Jahren hat der OSC Lille mal wieder den französischen Pokal gewonnen - und setzte die Meisterschaft in der Ligue 1 noch oben drauf. Seit Präsident Michel Seydoux das Zepter schwingt, geht es bergauf. Der Blick in die Zukunft ist jedoch noch etwas verschwommen.

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Vor etwas mehr als einem Jahr, da regierte in Lille noch pure Fassungslosigkeit. Die Doggen verloren beim um die goldene Ananas spielenden FC Lorient am letzten Spieltag der Ligue 1 mit 1:2. Nach zuvor fünf Siegen aus sechs ungeschlagenen Spielen.

Lange Durststrecke beendet

Sie verloren damit auch die Teilnahme an der Champions League. Die Mannschaft, die mit 72 Toren den besten Angriff Frankreichs stellte, belohnte sich nicht für eine ausgezeichnete Saison. Lyon und Auxerre zogen vorbei. Enttäuschung, wo man nur hinsah.

54 Wochen später dreht die komplette Stadt aus dem Departement Nord vollkommen am Rad. Der LOSC hat in der soeben abgelaufenen Saison die Rekorde purzeln lassen (siehe Faktenbox).57 Jahre musste der Verein aus der einstigen Schwerindustriemetropole auf den Meistertitel warten. Eine solch lang Durststrecke zwischen zwei Meistertiteln musste noch kein Ligue-1-Verein über sich ergehen lassen.

Eine Woche zuvor gewann Lille bereits den Coupe de France - erstmals seit 1955. Ein Double steht schon in den Annalen. Das liegt 65 Jahre zurück und erinnert an die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als Lille zu den besten Vereinen Frankreichs gehörte.

OSC Lille: Abstieg 1997

Der doppelte Titelgewinn 2011 stürzte die Stadt, so groß wie Magdeburg, in einen einzigen großen Feier-Exzess. "Der Klub führt die Menschen zusammen, die Stadt ist wie in Trance", verkündete Bürgermeisterin Martine Aubry stolz.

Ligue 1: Die Abschlusstabelle

Und zwar zu Recht. Denn das, was der OSC Lille in diesem Jahr fabrizierte, grenzt an ein Wunder. Vor 14 Jahren noch lag der Verein am Boden und stieg in die Ligue 2 ab. In den Jahren zuvor sprang kaum einmal ein einstelliger Tabellenplatz heraus. Lille war ein Klub, der allenthalben Mittelmaß personifizierte.

Doch der Abstieg schien heilende Kräfte freizusetzen. Ab 2000 ging es fast stetig bergauf. Zuerst gelang die Rückkehr ins Oberhaus: Als Aufsteiger führte man zur allgemeinen Verwunderung fast zwei Monate die Tabelle an und qualifizierte sich am Ende als Tabellendritter mit der besten Abwehr der Liga erstmals für die Champions League.

Präsident Seydoux krempelt Verein um

Kurz darauf fand Michel Seydoux den Weg in den Verein. Der 63-jährige Filmproduzent wurde 2002 Aktionär des Vereins, übernahm zwei Jahre später mehrheitlich und wurde Präsident. Seydoux krempelte den Verein um und ließ als erste Maßnahme ein hochmodernes Trainingszentrum errichten.

Er lobte eine langfristig angelegte Philosophie aus, die neben aller Kontinuität auch auf der Ausbildung eigener Talente fußt. Claude Puel wurde als Trainer engagiert. Er blieb letztlich sechs Jahre - unter dem Strich standen weitere Teilnahmen an CL und Europa League.

Es gab aber auch Spielzeiten, in denen der LOSC aufgrund der Doppelbelastung an seine Grenzen stieß und die Achse der Mannschaft durch Verkäufe von Schlüsselspielern wie beispielsweise Michel Bastos, Jean Makoun oder Kevin Mirallas in Schieflage geriet. Die finanzielle Situation des Vereins, der im nur 18.000 Zuschauer fassenden Stade Nord Lille Metropole seine Heimspiele austrägt, ist eben alles andere als rosig.

Johan Micoud gerät ins Schwärmen

Für den besonnenen Seydoux ist dies kein Problem. Er sah, dass sich sein Verein dennoch organisch entwickelte. Zusammen mit Puel-Nachfolger Rudi Garcia baute er in der Folge verstärkt auf ein homogenes Kollektiv aus erfahrenen und jüngeren Akteuren und richtete dieses nach einer fixen Spielidee aus: Offensiv geprägter Fußball gepaart mit der nötigen Grundaggressivität in der Defensive. Die Gemeinschaft greift an und die Gemeinschaft verteidigt.

"Ich schätze ihre Mentalität, diesen Willen, schön zu spielen und nicht die Philosophie zu ändern, selbst nicht in schwierigen Zeiten", schwärmte Ex-Werderaner Johan Micoud von der Meistermannschaft, die den Zenit dieser Spielphilosophie erreichte.

Doch was kommt nach dem Zenit, dem sensationellen Double? Was kommt, wenn die Spuren der Feierlichkeiten beiseite geräumt sind?

Was passiert mit Hazard, Gervinho und Sow?

"Wir haben einen Zyklus abgeschlossen. Nun beginnt ein neuer. Dieses Double ist der Beginn einer neuen Ära für einen Verein, der erst in Frankreich und dann in Europa groß werden möchte", sagt Seydoux so staatstragend, wie es in Frankreich typisch ist.

Doch Seydoux wäre nicht Seydoux, wenn er Gegenwart und Zukunft nicht mit einer gesunden Portion Vernunft und Realismus bewerten würde: "Es wird Zeit brauchen. Wir haben einen Meilenstein erreicht und sind auf dem Weg, weitere zu erreichen. Doch wir müssen leistungsfähig bleiben und unser Geld vernünftig ausgeben."

Das ist selbstverständlich leichter gesagt als getan. Die Art und Weise, wie Lille die Ligue 1 dominierte, hat auch im Ausland Eindruck hinterlassen und Begehrlichkeiten geweckt. Man wird viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um das Dreieck um Eden Hazard, Gervinho und Torschützenkönig Moussa Sow (schossen zusammen 47 von 68 Toren) von einem Verbleib zu überzeugen. Die großen Klubs wedeln seit langem mit den Scheinen.

Neues Stadion wird 2012 eröffnet

Lille dagegen kann trotz des Champions-League-Geldes nicht mitwedeln. Der LOSC verbucht in den Bereichen Sponsoring und Ticketing keine üppigen Einnahmen. Zum Vergleich: 60 Millionen Euro hat der Klub in dieser Saison in die Hand genommen, das ist nicht einmal die Hälfte der Budgets von Marseille oder Lyon. Der Großteil der Kohle fließt dank des generösen TV-Vertrags, der jedoch im kommenden Jahr ausläuft. Es wird nicht davon ausgegangen, dass die zukünftigen Erlöse ähnlich opulent wie bisher ausfallen.

Hoffnung macht da die für 2012 geplante Eröffnung des neuen Stadions, in dem 50.000 Zuschauer Platz finden sollen. Seydoux erwartet dabei zu Beginn Einnahmen zwischen 15 und 20 Millionen Euro. "Diese sind unverzichtbar, weil wir uns nicht auf die Fernsehrechte verlassen können. Das Stadion wird uns erlauben, innerhalb von zwei Jahren einen Haushalt um die 90 Millionen Euro zu stemmen."

Der Präsident schlägt ob der Zukunft des OSC Lille einen vorsichtig euphorischen Ton an. Vor 54 Wochen sah man ihn noch bedröppelt auf der Tribüne des Stade du Moustoir in Lorient sitzen.

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