Chelsea: Die Rückkehr der Drei-Punkte-Maschine

SID
Der Dirigent: Chelsea-Coach Carlo Ancelotti kam 2009 vom AC Mailand nach London
© Getty

Auch ohne namhafte Neueinkäufe steht der FC Chelsea unangefochten an der Spitze der Premier League und gilt schon jetzt als Top-Favorit auf den Titel. In der Champions League tritt der Verein heute als Tabellenführer der Gruppe D beim FC Porto an (20.30 Uhr im LIVE-TICKER und auf SKY). Ein ganzheitlicher Ansatz und die konsequente Rotation von Trainer Carlo Ancelotti sind nur zwei Erfolgsgeheimnisse der Blues, wie Raphael Honigstein in seiner aktuellen SPOX-Kolumne feststellt.
 
 
 

Cookie-Einstellungen

33 Punkte nach 13 Spielen, 12 Heimsiege in Folge, eine Tordifferenz von +25: Chelsea ist momentan in der Premier League das Maß aller Dinge. Die "Times" sah beim 4:0 gegen Wolverhampton bereits den "designierten Meister" spielen.

Dafür ist es vielleicht noch ein bisschen zu früh, doch die konstant herausragenden Leistungen der vergangenen Wochen haben die Blues zumindest zum Top-Favoriten auf den Titel gemacht.

Am Samstag war das Team von Carlo Ancelotti auch ohne die verletzten Frank Lampard, Michael Ballack, Didier Drogba und Jose Bosingwa so gnadenlos überlegen, dass sich Michael Essien im Privatduell mit dem (schwachen) Wolves-Torhüter Wayne Hennessey voll und ganz der Jagd nach seinem ersten Hattrick verschreiben konnte. Der Ghanaer machte nur zwei Tore - das war die größte Überraschung des Nachmittags.

Ancelottis Machtdemonstration

In der 59. Minute, als der Aufsteiger beim Schiedsrichter am liebsten um den vorzeitigen Abpfiff wegen guter Führung ersucht hätte, erlaubte sich Ancelotti eine kleine Machtdemonstration. Der Italiener wechselte Gael Kakuta ein, jenen 18-jährigen Franzosen, dessen kontroverser Wechsel vom RC Lens 2007 ein Transferverbot für die Londoner nach sich zog.

Der Einsatz von Kakuta, den Mitspieler Mikel John Obi später als "technisch besten Spieler im Verein" rühmte, offenbarte, dass Chelsea der Verhandlung vor dem Sportgericht in Lausanne sehr selbstbewusst entgegen sieht.

Ein wichtiges Etappenziel, die vorübergehende Aufhebung der Strafe im Januar, hat man ja schon erreicht.

Dominanz statt Stagnation

Chelseas Dominanz war so nicht vorhersehbar. Zu Saisonauftakt, beim Community-Shield-Match gegen Manchester United, stand Kapitän John Terry noch in der Mixed Zone des Wembley-Stadions und forderte unverblümt prominente Neuverpflichtungen wie Franck Ribery. Ohne dafür vom Verein in irgendeiner Weise belangt zu werden, übrigens.

Der von der Finanzkrise nicht verschonte Eigentümer Roman Abramowitsch stieß im Sommer aber erstmals an seine Grenzen. Andrea Pirlo, Pato (beide AC Milan), "Kun" Aguero (Atletico Madrid) und auch Ribery kamen nicht nach West-London; mit Juri Schirkow vom ZSKA Moskau konnte nur eine echte Verstärkung präsentiert werden. Chelsea, so dachten viele, drohte ein Jahr der Stagnation.

Dass es ganz anders kam, hat auch ein paar ganz banale Gründe. Ein im Vergleich mit der Konkurrenz äußerst dankbares Programm zum Auftakt (Hull, Sunderland, Fulham, Burnley, Stoke) zum Beispiel, sowie ein Spielplan, der den Blauen in sämtlichen Matches gegen die besseren Teams (Tottenham, Liverpool, ManUtd) bisher Heimvorteil gab. Das einzig nominell wirklich schwere Auswärtsspiel, bei Aston Villa, verlor man mit 1:2.

Rückkehr der Drei-Punkte-Maschine

Von schwerwiegenden Verletzungen der Stammspieler blieb man zudem weitestgehend verschont. Dass der angestammte Rechtsverteidiger Jose Bosingwa lange fehlt, fiel dank der guten Form von Branislav Ivanovic kaum ins Gewicht.

Mit solchen Zufällen allein lässt sich die Rückkehr der aus den Mourinho-Jahren gefürchteten Drei-Punkte-Maschine natürlich nicht erklären. Ein ganz wichtiger Vorteil ist mit Sicherheit die Erfahrung und Homogenität des Teams, das bis auf den einen oder anderen Kicker im Wesentlichen seit vier Jahren zusammen spielt.

"Chelsea hat das Glück, keinen wichtigen Spieler im Sommer verloren zu haben", sagt Terry, "wir kennen uns alle und treten als Einheit auf". Schon im ersten Liga-Spiel gegen Hull war zu spüren, dass die Londoner nach drei Manchester-United-Meisterschaften ihren unbändigen Siegeswillen der Vergangenheit zurück gewonnen hatten.

Die als ungerecht empfundene Halbfinalniederlage gegen Barcelona in der Champions League hat Chelsea zusätzlich angestachelt. Gerade was die Königsklasse angeht, tritt die Truppe mittlerweile ähnlich besessen wie der FC Bayern nach 1999 auf.

Körperlich flexibel

An Didier Drogba und Nicolas Anelka, den zu Phlegma neigenden Angreifern, sieht man den Unterschied besonders stark. Beide sind im Vergleich zum Vorjahr viel energischer und als schnelles, robustes Duo kaum zu verteidigenden. Gäbe es in der Premier League den Titel des MIP (most improved player), Anelka würde ihn verdienen. Auch Michael Ballack wirkt viel präsenter und spritziger als 2008/09, als ihm die Europameisterschaft spürbar in den Knochen steckte.

Hauptverantwortlich dafür, dass die Elf auch ohne neue Beine so erstaunlich frisch spielt, ist allerdings Ancelotti. Der 50-Jährige hat nicht viel, aber doch Entscheidendes verändert. Taktisch hat Ancelotti auf den ersten Blick jene Raute wieder entdeckt, die Mourinho 2006 einführte, um alle seine zentralen Mittelfeldspieler auf den Platz und mehr Ballkontrolle ins blaue Spiel zu bekommen.

Was unter dem Portugiesen jedoch nur in Ansätzen funktionierte - Ballack fühlte sich auf der Position hinter den Spitzen überhaupt nicht wohl, die Gegner standen ihm dort auf den Füßen - wirkt in der Version von Ancelotti sehr fein austariert. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass er das aus Mailand erprobte 4-3-1-2 spielen lässt; ein System, das sich je nach Spielstand und Gegner in eine echte Raute oder Chelseas klassisches 4-3-3 verwandeln kann.

Da in der Zentrale ständig rochiert wird und sich zwei von den drei nominell defensiven Mittelfeldspielern immer wieder abwechselnd in die Angriffe einschalten, spielt das Team unheimlich flexibel, ohne an Körperlichkeit einzubüßen. Es fällt gar nicht auf, dass meist nur  ein schneller, trickreicher Mittelfeldspieler auf dem Platz steht.

Konsequente Rotation

Wie schon unter Hiddink gegen Ende der vergangenen Saison wird konsequent rotiert, um die Belegschaft bei Laune und fit zu halten. Die Spieler begrüßen das ausdrücklich. Sie wissen, dass die lange Spielzeit anders nicht erfolgreich zu bewältigen ist.

Und: Assistenztrainer (und Dolmetscher) Bruno Demichelis hat die Methoden aus dem sagenumwobenen Milan-Lab mit an die Themse gebracht. "Uns geht es um einen ganzheitlichen Ansatz", sagt der ehemalige Karate-Vizeweltmeister, "die Spieler werden bei uns rundum betreut."

Aus der Kabine hört man, dass das Training ungleich professioneller als unter Scolari ausfällt, der immerzu die erste gegen die zweite Mannschaft spielen ließ und sich wunderte, warum seinem Team im Winter die Luft fehlte.

Demichelis war in Mailand ja außerdem Spezialist darin, Spieler im fortgeschrittenen Alter auf einem sehr hohen Leistungsniveau zu halten; das Chelsea eine "alte Mannschaft" über ihrem Zenit sei, wie Alex Ferguson im Sommer 2008 andeutete, hört man auf der Insel jedenfalls überhaupt nicht mehr.

Romans blaues Monster frisst momentan die ganze Liga auf.

Alle Informationen zur Premier League

Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 15 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungiert Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 35-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig.