Das Imperium fällt zurück

SID
Manchester United hat zwei Punkte Rückstand auf den FC Chelsea in der Tabelle der Premier League
© Getty

In seiner aktuellen SPOX-Kolumne beleuchtet Raphael Honigstein die Lage bei Manchester United. Spätestens nach dem 0:1 gegen Leeds United im FA-Cup brodelt es im Old Trafford. Honigstein erklärt auch, weshalb sich ein möglicher Umbruch bei United eher schwierig gestalten würde.

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Kapitän Roy Keane hatte nach dem 1:4 beim FC Middlesbrough im Oktober 2005 genug gesehen. "Ich bin nicht überrascht über dieses Ergebnis, ich habe so etwas erwartet", sagte der verletzt pausierende Ire dem Vereinssender MUTV. "Wir haben nicht genügend Charaktere im Team. Die Spieler haben den Klub, den Trainer und die Fans im Stich gelassen. In diesem Verein wird man anscheinend dafür belohnt, schlecht zu spielen. Vielleicht sollte ich auch schlecht spielen, wenn ich zurückkomme."

Kollege Rio Ferdinand, den damals teuersten Spieler der Premier League, hatte Keano besonders auf dem Kieker: "Einige denken, sie sind schon Superstars, weil sie 120.000 Pfund in der Woche verdienen und mal zwanzig gute Minuten gegen Tottenham spielen." Man brauche im Januar keineswegs Neuverstärkungen, fügte Keane hinzu: "Wir sollten lieber einige loswerden."

Das berüchtigste TV-Interview in der Geschichte von Manchester United wurde nie gesendet. Alex Ferguson und Geschäftsführer David Gill verhinderten die Ausstrahlung, später wurde die Film-Kassette angeblich verbrannt. Die Generalabrechnung fand trotzdem Wort für Wort den Weg in den "Daily Mirror"; zwei Wochen später wurde der Vertrag des Mittelfeldspielers nach einer neuerlichen Auseinandersetzung mir Sir Alex vorzeitig aufgelöst.

Keanes vernichtendes Urteil über das Team wurde aber im folgenden Dezember bestätigt: ein erbärmlich schlechtes United verlor in der Champions League 1:2 bei Benfica und verpasste als Gruppenletzter zum ersten Mal seit 1993 die K.o.-Runde. Die Pleite in Portugal war auch kein Zufall, sondern der logische Schlusspunkt eines negativen Trends.

Falsche Transferentscheidungen

2002 war man noch bis ins CL-Halbfinale gekommen, 2003 schied man im Viertelfinale aus, 2004 und 2005 zweimal im Achtelfinale. In der Liga blieb man dazu drei Jahre ohne Meistertitel. Es war die längste Durststrecke, seit Ferguson 1993 den ersten Premier-League-Titel gewann.

Der Schotte hatte die glorreiche Mannschaft der Neunziger nach dem Champions-League-Gewinn mit falschen Transferentscheidungen (Veron, Bellion, Barthez) systematisch heruntergewirtschaftet. Als lame duck, lahme Ente, wurde er damals selbst in den seriösen Blättern beschrieben. Seine Demission im Sommer 2006 galt als unausweichlich.

Die Situation vor vier Jahren hat mit der heutigen Lage auf den ersten Blick überhaupt nichts gemein. United steht im Champions-League-Achtelfinale und ist in der Liga auf Tuchfühlung hinter dem FC Chelsea. Fergusons Arbeitsplatz ist vollkommen ungefährdet.  Der 68-Jährige bestimmt selbst, wie lange er noch die Schiedsrichter beleidigt und zu wenig Nachspielzeit moniert. Doch im roten Teil Manchesters brodelt es, und zwar gewaltig.

Fans mucken auf

Die 0:1-Heimniederlage gegen Drittligist Leeds United am Sonntag brachte erstaunlich viel Missmut ans Tageslicht. Ein Anrufer aus dem Publikum forderte in einer Live-Sendung von MUTV sogar einen Trainerwechsel. "Wir sind einfach nicht gut genug", klagte der Mann verzweifelt. Die Moderatoren waren geschockt. In der Wiederholung des Programms am Tag darauf war die Szene rausgeschnitten.

Selbst die optimistischsten United-Fans wussten, dass es nach dem Abschied von Carlos Tevez und Cristiano Ronaldo keine einfache Saison werden würde. Ferguson selbst stellt diesmal auch gar nicht das Problem dar. Der Schotte, dem durch die 800 Millionen Euro Schulden des Klubs im Sommer auf dem Transfermarkt sichtlich die Hände gebunden waren, hat aus der schwierigen Situation bisher fast das Optimale gemacht.

Die unglaubliche Verletzungsmisere in der Abwehr überwand er ebenfalls mit Bravour. Nein, die Sorge der supporters ist grundsätzlicher. Sie gilt der Zusammensetzung des Kaders, dem Verlust der spielerischen Brillanz von 2008 und den ungewissen Zukunftsaussichten. "Die Kampfmaschine United hat an Fahrt verloren", befand Englands Nationaltrainer Fabio Capello kurz vor Jahreswechsel.

Rooney - und dann lange nichts

Wayne Rooney zeigt sich in dieser Saison in absolut bestechender Form. Aber hinter dem 24-Jährigen klafft ein gewaltiges Qualitätsloch. Dimitar Berbatow produziert zu wenig Zählbares. Der vermeintliche Ronaldo-Nachfolger Nani ist wie Kollege Anderson in seiner Entwicklung stehen geblieben. Antonio Valencia spielt für einen 20-Millionen-Euro-Mann relativ bieder; Gabriel Obertan, 20, ist (noch) nicht mehr als ein Talent.

Die Routiniers Ryan Giggs, Paul Scholes und Gary Neville pfeifen aus den letzten Löchern. Rio Ferdinand hat wegen einer hartnäckigen Rückenverletzung nur fünf Ligaspiele bestritten, der Zeitpunkt seiner Rückkehr steht in den Sternen. Sein Abwehrpartner Nemanja Vidic kokettiert mehr oder minder offen mit einem Wechsel.

Edwin van der Saar, der sich derzeit um seine kranke Frau kümmert, wird seine Karriere voraussichtlich beenden. Wer soll neben Rooney in der nächsten Saison die Verantwortung übernehmen? Darren Gibson, die Da-Silva-Zwillinge, Danny Welbeck?

Mittelfristig tun sich erstaunlich viele Baustellen im Old Trafford auf. Die Krise von 2005 meisterte Ferguson mit der Neuausrichtung der Abwehr - im Januar 2006 kamen Patrice Evra und Vidic für 17,5 Millionen Euro - und dem Kauf von Michael Carrick für 21 Millionen Euro im Sommer, dazu wurde Ruud van Nistelrooy abgeschoben.

Leere Kassen machen Sorgen

United gewann 2007 die Meisterschaft zurück. Nicht nur der "Guardian" ("Manchester City, nicht United, beginnt das neue Jahrzehnt als Finanzgroßmacht") fürchtet jedoch, dass Ferguson diesmal die Ressourcen für die erforderlichen Reparaturen nicht zur Verfügung stehen.

Das von der Glazer-Familie komplett auf Pump gekaufte United muss mittlerweile pro Jahr 80 Millionen Euro für die Schuldentilgung aufbringen, während die Nachbarn von ManCity vor lauter Scheich-Millionen gar nicht mehr wissen, wen sie als nächstes kaufen sollen und Chelsea-Besitzer Roman Abramowitsch großzügig alle Defizite ausgleicht.

Die Vergangenheit lehrt, dass man Fergusons Kampfgeist und Management-Talent nie unterschätzen sollte. Doch United stehen angesichts der leeren Kassen, des nach prominenter Offensiv-Verstärkungen lechzenden Kaders und dem absehbaren Ende von Sir Alex' Trainerlaufbahn höchstwahrscheinlich ein paar unangenehme Übergangsjahre ins Haus, die weitaus schmerzhafter als 2003/04, 04/05 und 05/06 ausfallen könnten. Damals musste der Klub, was die Wirtschaftskraft anging, es zudem nur mit Chelsea aufnehmen.

Der bange Blick in die NFL

Es muss nicht zwangsläufig zum Niedergang des roten Imperiums kommen, der Blick nach Amerika aber wird den United-Fans Angst machen. Die von den Glazers kontrollierten Tampa Bay Buccaneers feuerten im Januar 2009 überraschend John Gruden. Der langjährige Erfolgscoach fiel dem neuen Sparkurs in Florida zum Opfer.

Die Super-Bowl-Gewinner von 2002 schlossen die Saison prompt auf dem letzten Tabellenplatz in ihrer Division ab und verpassten zum zweiten Mal in Folge die NFL-Playoffs.

"Die Glazers stellen ihre eigenen finanziellen Interessen über die des Klubs", beschwerte sich ein Bucs-Jahreskartenbesitzer am Mittwoch in der "Tampa Bay Tribune" über den beängstigenden Zustand des einstigen Spitzenklubs. "Selbst Vince Lombardi könnte mit diesem Team nicht gewinnen".

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig.