Auswärtsspiel – die SPOX-Kolumne: West Ham United und die Ankunft des Messias

Von Fatih Demireli
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West Ham United hat keine Superstars, spielt keinen aufregenden Fußball, aber ärgert die Topklubs in der Premier League und spielt um den Einzug in die Champions League. Ein Verdienst des Trainers David Moyes, der schon als gescheitert galt und nun als Messias gefeiert wird.

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Sowas hat man nicht alle Tage: Da sitzt man in seinem kleinen Büro und zur Tür kommt der Messias herein. Was macht man da als höflicher Gastgeber? Klar. Man bietet ihm und seinem Jünger ein Bierchen an. Er nickt, setzt sich auf das kleine Sofa aus Kunstleder in der Ecke und genehmigt sich eine Flasche Supermarkt-Bier.

Russell Penn, Trainer des englischen Sechstligisten Kidderminster Harriers, hatte diese Ehre vor wenigen Tagen. Für die Gäste gab es Flaschen, für ihn blieb die Dose. Er brauchte auch etwas Kräftigeres, da er gerade mit seiner Amateurtruppe kurz davorstand, einen Premier-League-Klub aus dem FA Cup zu schießen, aber der Messias hatte etwas dagegen.

Bis zur 90. Minute führte Kidderminster gegen West Ham United mit 1:0. Dann traf Declan Rice in der Nachspielzeit zum 1:1. Als man sich seelisch auf das Elfmeterschießen vorbereitete, schoss Jarrod Bowen das 2:1 in der 120. Minute zum Sieg der Londoner Gäste.

David Moyes ist der Moyesiah von West Ham United

Die Gewinner der Herzen waren aber die Jungs aus Kidderminster, die aufopferungsvoll gekämpft hatten und der Sensation so nahestanden. Dass da der Messias vorbeikommt und gratuliert, versteht sich von selbst.

Der Messias ist David Moyes, doch so sprechen ihn die Fans von West Ham United schon lange nicht mehr an. Für sie ist er der Moyesiah. In Anlehnung an das englische Messiah.

"Wenn Spitznamen im Umlauf sind, hatte ich schon viele schlechte, also nehme ich diesen gerne an, wenn man ihn mir gegeben hat", sagt Moyes mit dem breitesten Grinsen, das der Schotte zur Verfügung hat. Es ist gerade auch viel zu schön, was der 58 Jahre alte Trainer erlebt, um diese Zuneigung abzulehnen.

Moyes galt schon längst als gescheiterter Trainer. Ob als Nachfolger von Sir Alex Ferguson bei Manchester United, ob als Trainer von Real Sociedad oder beim AFC Sunderland. Er kam mit Zweifel und ging mit Spott. Als er im Dezember 2019 bei West Ham United übernahm, sangen viele Fans den Abgesang auf ihren notorisch abstiegsbedrohten Verein. Nun singen sie nur noch Moyesiah, Moyesiah!

Die Zeiten von Carlos Tevez und Co. sind vorbei

Moyes gelang die Transformation vom Abstiegskandidaten zum Champions-League-Aspiranten. In der vergangenen Saison wurde West Ham schon Sechster - noch vor den Lokalrivalen Tottenham Hotspur und Arsenal und qualifizierte sich für die Europa League. Nun ist West Ham Fünfter und kämpft um den ersten Champions-League-Einzug in der Vereinsgeschichte.

Schaut man auf den Kader, stellt sich die Frage, wie Moyes es geschafft hat, mit einer Mannschaft ohne Superstars das übliche Tabellenbild der Premier League zu torpedieren. Und wahrscheinlich ist die Antwort auch in der Frage versteckt. Es ist ein Segen für West Ham, keine Superstars zu haben.

Blickt man in die Vergangenheit, hat es der Traditionsklub immer wieder probiert, große Fische an Land zu ziehen. Da war die Zeit mit Carlos Tevez und Javier Mascherano, da war die Zeit mit Javier Hernandez, mit Marko Arnautovic, mit Andy Carroll. Nadelstiche, die Nadelstiche blieben und keinen Erfolg einbrachten.

West Ham United schießt die meisten Tore nach Ecken

Moyes machte nun aus West Ham eine Moyes-Mannschaft. Bodenständig, familiär, unauffällig. West Ham United spielt keinen spektakulären Offensivfußball, sie spielen ihre Gegner nicht schwindelig. Weil sie es gar nicht können.

West Ham United verteidigt und kontert auf hohem Niveau. Sie stehen tief und kompakt, gewinnen den Ball und kontern dann mit hohem Tempo. Die Mannschaft ist außerdem sehr beweglich in der Rückwärtsbewegung und macht so die Räume gekonnt zu. Und der vielleicht größte Faktor: Sie ist fit.

Fitter als die meisten Teams in der Premier League. Und da ist noch die Stärke mit den Standards. Seit der Ankunft von Moyes hat West Ham United 25 Tore nach Ecken geschossen. So viele wie kein anderer Klub in der Liga. Jarrod Bowen ist einer der besten Standardschützen der Liga. "Wir haben nicht viele Standards pro Spiel, aber wenn, sind wir sehr gefährlich - auch dank Jarrod", sagt Pablo Fornals.

"Die können Declan Rice nicht mal die Schuhe binden"

Es verwundert aber nicht, dass die Leistungsträger dieser Mannschaft vor allem in der Defensive zuhause sind. Da ist vor allem Declan Rice (23), der bei der für England sehr erfolgreichen EM 2021 jedes Spiel von Anfang an machte und spätestens seither stark umworben ist.

Für England-Legende John Terry ist klar: "Auf seiner Position gibt es keinen besseren Spieler auf der Welt." Trainer Moyes, der sonst kein großer Redenschwinger ist, muss bei Rice eine Ausnahme machen: "Ich habe mir die Preise einiger Spieler angeschaut, die in letzter Zeit zu anderen Klubs gegangen sind und die können Declan Rice nicht mal die Schuhe binden." Moyes fügt an: "Rice ist viel, viel mehr wert!"

Aber der Engländer ist nicht allein: Da ist Tomas Soucek (26), der an der Seite des Engländers im Mittelfeld spielt. Der Tscheche, der für 24 Millionen Euro von Sparta Prag kam, ist eine Waffe in der Luft und bei Standards. 16 Tore schoss er schon in 86 Spielen. Er und Rice ergänzen sich als Mittelfeld-Duo fast blind. Beide Spieler sind stark umworben, aber sie zieht es nicht weg.

Wie eine große Familie: West Ham United.
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Wie eine große Familie: West Ham United.

West Ham United: Eine eine große Familie - auch bei Zouma

Vor allem Rice haben die Millionen, die er woanders noch um ein Vielfaches verdienen könnte, bisher noch nicht beeindruckt, weil sein eigener Verein, für den er seit der Jugend spielt und sich stark verbunden fühlt, endlich Erfolg hat: "Ich spiele mit einem Lächeln auf meinem Gesicht, gehe raus und führe das Team."

Das Lächeln ist wichtig bei West Ham. "In der Kabine sind wir eine große Familie. Wir vertrauen uns gegenseitig und spielen füreinander", sagt der Tscheche Vladimir Coufal.

Als zuletzt Abwehrspieler Kurt Zouma ein Video verbreitete, wie er seine Katze misshandelt, gab es viel Kritik. Aber die Mannschaft stand zu ihm. Teamkollege Michail Antonio erklärte, dass er nichts von dem, was Zouma getan hat, billige.

Aber: "Ich muss einfach jedem da draußen diese Frage stellen: Ist das, was er getan hat, schlimmer als das, was die Leute getan haben, die wegen Rassismus verurteilt wurden? Es gibt Leute, die wegen Rassismus verurteilt und erwischt worden sind und danach weiter Fußball gespielt haben. Sie bekamen eine Strafe von acht Spielen oder etwas Ähnliches. Jetzt fordern die Leute, dass man ihn entlässt."

Die Mannschaft hält zusammen, wenn es auch Rückschläge gibt. Auch sportlich. Wenn es - wie zuletzt - ein paar schwächere Spiele gab, bringt das die Hammers auch nicht aus der Fassung: "Wir sind ein toller Haufen Jungs und nehmen jedes Spiel so, wie es kommt", sagt Rice. Wohin der Weg dieser Truppe führt, wird interessant zu beobachten sein.

Der Einzug in die Champions League wäre ein Traum für die treuen Anhänger. Aber wenn nicht, bricht die Welt nicht zusammen, weil schon der Ist-Zustand ein großer Erfolg ist. "Diese Spieler standen kurz vor dem Abstieg. Nun drängen wir nach Europa", sagt Moyes, für den es eine große Genugtuung ist, ausgerechnet bei einem früheren Chaosverein Ruhe zu verbreiten und auf seine Weise Erfolg zu haben.

Zieht er in die Königsklasse ein, wo er 2013/14 mit Manchester United im Viertelfinale stand und dort am FC Bayern München scheiterte, wird der Moyesiah endgültig heiliggesprochen. Und vielleicht kommt dann Russell Penn mit ein paar Bierchen vorbei.

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