Fernando Torres und sein umstrittener Wechsel vom FC Liverpool zum FC Chelsea: Der traurige Judas

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"Es war ein Albtraum. Nicht nur für mich, sondern für alle in der Mannschaft", erinnert sich Torres. Gerade der Umgang der Bosse mit Trainer Hodgson sei "bedauernswert" gewesen. "Sie ließen ihn nicht arbeiten. Sie stellten ein neues Ärzteteam aus Australien zusammen, das alles kontrollierte und darüber entschied, wer spielen soll und wer nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es war ein Chaos."

Ein Chaos, das Anfang Januar 2011 in der Entlassung von Hodgson gipfelte. Für ihn übernahm Liverpool-Legende Kenny Dalglish die in der Liga auf Platz zwölf stehende Mannschaft - und einen immer nachdenklicheren Torres. Der war inzwischen immerhin von Comolli in die Ideen des Klubs eingeweiht worden. "Er sagte mir, die Eigentümer würden gerne junge Spieler holen und etwas Neues aufbauen. Ich dachte mir dann: Das wird Zeit brauchen. Vielleicht zwei, drei, vier oder zehn Jahre", erzählt Torres. "Ich war damals 27. Ich konnte nicht warten. Ich wollte gewinnen."

Selbst sein Kumpel Steven Gerrard, immerhin einer der Führungsspieler, habe Verständnis für seine Wechselgedanken gezeigt. Zumal sich auch Dalglish nicht wirklich für einen Verbleib von Torres einzusetzen schien. Nachdem am 22. Januar ein erstes offizielles Angebot des FC Chelsea in Liverpool eintrudelte, kam es zu einem Gespräch des Stürmers mit dem neuen Trainer.

Judas-Beschimpfungen: Torres "hätte wohl genauso reagiert"

"Ich wollte sprechen. Ohne meinen Berater, nur mit ihm. Von Angesicht zu Angesicht. Ich war mir sicher, dass er die Situation hätte umbiegen können", so Torres. Dalglish habe ihm aber nur zu verstehen gegeben, dass er ihn noch brauche - ohne Gründe dafür zu nennen, ohne ihm die Wärme zu geben, seine Wechselgedanken zu verwerfen. "Er war der einzige, der in dieser Phase noch meinte, dass er mich gerne behalten würde. Parallel verhandelte Liverpool aber mit Chelsea. Ich weiß also nicht, ob seine Worte der Wahrheit entsprachen", sagt Torres.

Wenige Tage später, am Deadline Day, ging der zu diesem Zeitpunkt teuerste Transfer der englischen Fußballgeschichte über die Bühne. "El Niño", die gefeierte Ikone der Reds, wurde ein Blue und versetzte die Liverpooler Anhänger in eine Schockstarre, die kurz darauf zu einer Welle der Wut ausartete. Torres wurde als Judas beschimpft, im Internet kursierten Videos von brennenden Trikots mit der Nummer 9. "Ich hätte wohl genauso reagiert, wenn alles wirklich so gewesen wäre, wie es in den Medien berichtet wurde", sagt der Herzensbrecher.

Er sei als "Verräter" hingestellt worden, der auf eine sofortige Freigabe gedrängt habe. "Aber so war es nicht", betont Torres. Aus dem Verein seien gezielt solche Informationen an die Öffentlichkeit gedrungen, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken.

Die Fans des FC Liverpool machten Fernando Torres nach dessen Abschied die Hölle heiß.
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Die Fans des FC Liverpool machten Fernando Torres nach dessen Abschied die Hölle heiß.

Torres traurig: "Liverpool brauchte einen Sündenbock"

"Ich weiß bis heute nicht, wer es war. Aber ich konnte nach all diesen Berichten, die in den Medien auftauchten, nur noch wenigen Leuten im Verein trauen. Sie brauchten einen Sündenbock, weil sie eigene Fehler im Hinblick auf die Kaderplanung nicht zugeben wollten. Wie gesagt: Ich kam nach Liverpool, um zu gewinnen. Als ich den Verein verließ, war kein einziges Stück von dieser Gewinner-Kultur mehr übrig."

58,5 Millionen Euro zahlten die Blues für Torres. Ein aberwitziger Betrag, allein wegen der Knieprobleme und der Torausbeute (neun Premier-League-Treffer bis zum Transfer an die Stamford Bridge) des Angreifers. "Wir waren schockiert, dass wir so viel für ihn bekommen haben. Fernando war 18 Monate lang der beste Stürmer der Welt, in dem Jahr vor seinem Wechsel aber ein Schatten seiner selbst", so der damalige Liverpool-Kapitän Jamie Carragher.

Knapp 40 der Torres-Millionen reinvestierten die Reds direkt wieder, indem sie den aufstrebenden englischen Stürmer Andy Carroll von Newcastle United an die Anfield Road zerrten. Alles ging so schnell, dass der alles andere als wechselwillige Carroll selbst mehr oder weniger über die Medien von seinem Transfer erfuhr. Und Torres saß derweil schon in einem Helikopter, der ihn nach London bringen sollte. "Ich war im ersten Moment weder glücklich noch verärgert, eher leer", so Torres. "Dann flogen wir, und als es dunkel wurde und ich hinunter auf die Stadt Liverpool blickte, wurde ich traurig. Ich war so lange so glücklich dort unten, so glücklich."

Torres bei Chelsea: Zahlen sagen nicht alles

Der Rest ist Geschichte. Im negativen Sinne. Während Carroll bei den Reds auf ganzer Linie scheiterte und 2012 zu West Ham weiterzog, wurde Torres in London nie der, der er einst in Liverpool war - obwohl er als Blue mehr leistete als die nackten Zahlen (er brauchte wettbewerbsübergreifend für sein erstes Tor 903 Spielminuten und erzielte in 110 Premier-League-Spielen gerade einmal 20 Tore) es vermuten lassen. Er knipste dem FC Barcelona im Champions-League-Halbfinale 2012 mit seinem Solo-Lauf kurz vor Schluss das Licht aus und holte auch die Ecke im "Finale Dahoam" gegen die Bayern heraus, die Didier Drogba zum zwischenzeitlichen 1:1 verwertete. Torres traf überdies im Europa-League-Finale ein Jahr später gegen Benfica, das Chelsea mit 2:1 für sich entschied.

Und doch sind Trophäen auch nur Gegenstände. Die Wertschätzung der Fans, die er in Anfield erhalten hatte, wurde ihm an der Bridge nie zuteil. Die Pässe, mit denen ihn Gerrard gefüttert hatte, spielte ihm kein Kollege in Blau zu. "Bei Chelsea hat es nicht gepasst. Ich habe es vermisst, mit Stevie in Liverpool zu spielen. Die ganze Atmosphäre, die den Verein umgab, auch wie wir als Team für- und miteinander gekämpft haben ... All das war magisch", wird Torres in dem Buch von Simon Hughes zitiert. Er habe über die Jahre daher realisiert, "dass ein Champions-League-Sieg nichts daran ändert, wie man sich Tag für Tag fühlt. Jeder Tag ist anders, jeder Tag ist neu. Ich glaube heute nicht mehr, dass Titel wichtiger sind als glücklich zu sein."

Über Steven Gerrard (l.) sagt Fernando Torres: "Er war der beste Mitspieler, den ich je hatte."
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Über Steven Gerrard (l.) sagt Fernando Torres: "Er war der beste Mitspieler, den ich je hatte."

Die Profi-Stationen von Fernando Torres

Atletico Madrid (Spanien)2001 - 2007
FC Liverpool (England)2007 - 2011
FC Chelsea (England)2011 - 2014
AC Mailand (Italien)2014 - 2015
Atletico Madrid (Spanien)2015 - 2018
Sagan Tosu (Japan)2018 - 2019
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