"Wie ist das Wetter in Barcelona so?"

SID
Gänsehaut: Kevin Kuranyis Einlauf für sein letztes Spiel für Moskau
© Constantine Tverdovskiy/Dinamo Moskau

Kevin Kuranyi spielte fünf Jahre lang für Dynamo Moskau. Im April hat er sich entschieden, seinen auslaufenden Vertrag nicht zu verlängern und Russland zu verlassen. In seiner letzten SPOX-Kolumne erklärt er, wie es zu dieser Entscheidung kam, was er an Russland vermissen wird und wie es in Zukunft weitergehen könnte.

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Priwet is Moskwi!

Ok, ok, das ist zurzeit nicht ganz richtig. Ich bin zwar offiziell noch bis Anfang Juli in Moskau, doch derzeit genieße ich ein paar Ferientage in Singapur. Das ist eine gute Gelegenheit, um nach einer aufregenden Saison zur Ruhe zu kommen und vor allem, um sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was da vor ein paar Tagen in Moskau passiert ist. Ich sage euch, es war der Wahnsinn. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.

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Aber der Reihe nach. Ende April hat bei uns der Familienrat getagt - und wir haben beschlossen, dass ich meinen Vertrag bei Dinamo nicht ein weiteres Mal verlängere. Die Abstimmung ging übrigens 3:1 aus. Meine Frau, meine Tochter Vivien und ich waren dafür. Schweren Herzens zwar, aber wir waren dafür.

Mein Sohn Karlo war strikt dagegen. Und er ist es immer noch. Sagen wir es so: da habe ich in den Wochen bis zum Start der Sommerferien noch eine Menge Überzeugungsarbeit vor mir ... So lange bleiben wir nämlich noch in Russland.

Lange russische Winter

Warum der Rest von uns letzten Endes für einen Wechsel war? Nun, da gab es einige Gründe. Zum Beispiel, dass es für meine Familie immer hart war, den halben russischen Winter alleine in Moskau zu verbringen. Ich war mit Dinamo immer von Anfang Januar bis Anfang März fast durchgehend in Trainingslagern im Süden unterwegs, weil es wegen Eis und Schnee einfach nicht möglich ist, sich vor Ort für die Rückrunde vorzubereiten.

Und Viktorija und die Kinder waren nicht nur monatelang alleine, sondern dies ausgerechnet auch noch in der unangenehmsten Jahreszeit. Russische Winter haben zwar auch ihren Reiz - aber nicht auf Dauer. :) Dazu kommt, dass wir hier fünf Jahre waren. Eine lange Zeit im Profifußball.

Nach acht Jahren Stuttgart, fünf Jahren Schalke und nun fünf Jahren Moskau stehe ich, glaube ich, auch nicht in Verdacht, die Klubs nach Belieben zu wechseln. Wenn ich zu einem Verein gegangen bin, dann habe ich mich dort immer voll und ganz darauf eingelassen. Aber jetzt habe ich vielleicht die letzte Möglichkeit, noch einmal eine größere Station hinzuzufügen.

Wo? Gute Frage. So etwas kann man sich ja nicht beliebig aussuchen. Wenn es ein Wunschkonzert wäre, würde ich sagen: eine Rückkehr in die Bundesliga wäre schön. Aber es muss passen. Und nein, damit meine ich nicht das Geld. Zumindest nicht nur. Persönliche Perspektive und Perspektive des Klubs sind natürlich auch wichtig - und meine Familie muss sich wohlfühlen. Falls das mit der Bundesliga nicht hinhaut, wäre es schön irgendwo in die Wärme zu gehen. Wie ist denn das Wetter in Barcelona so? ;-)

Emotionaler und erfolgreicher Abschied

Aber zurück zu Dinamo. Trotz allem ist uns der Entschluss nicht leicht gefallen. Und je näher der Termin rückt, umso dicker wird der Kloß im Hals. Ich habe vor ein paar Tagen das erste Mal mit den Tränen gekämpft. Bei meinem letzten Spiel für Dinamo. Aber die Jungs von meinem Klub haben auch alle Register gezogen. Das müsst ihr euch aber auch mal vorstellen. In dieser Partie, wir gegen Krasnodar, ging es für beide Teams um sehr, sehr viel.

Für uns um den Einzug in die Europa League - für den Gegner um das Erreichen der Champions-League-Plätze. Und dann wird das eine so tolle Atmosphäre, wie man es eigentlich nur aus Abschiedsspielen zum Ende einer Karriere kennt. Vor dem Anpfiff standen die Spieler beider (!) Teams für mich und meine Kinder Spalier.

Großer Gänsehaut-Moment

Das war der erste große Gänsehaut-Moment. Dann enthüllten die Fans zwei große Dankes-Transparente. Ich war völlig geplättet, musste aber gleich zur Seitenwahl und mich aufs Spiel konzentrieren. Wir haben 1:1 gespielt und unser Ziel erreicht. Krasnodar nicht.

Nach dem Schlusspfiff ging es weiter. Mit Cheerleadern, die mit ihren Pompons erst eine großes Herz, dann eine 22 formten. Mit einer Ehrenrunde, mit Verabschiedung von jedem Teamkollegen. Mein Trainer Stanislaw Tschertschessow ist mir um den Hals gefallen, mein Präsident Boris Rotenberg hat mich hochleben lassen... Ich kann euch sagen, es war ein superschöner und gleichzeitig supertrauriger Nachmittag.

Es war gar nicht so einfach, die Tränen zurückzuhalten. Und es ist keine Floskel, wenn ich sage, dass ich diesen Verein, diese Stadt und dieses Land in meinem Herzen behalten werde. Vor allem die Menschen dort. Die Russen sind nur auf den ersten Blick etwas distanziert. In Wirklichkeit sind es sehr offene Menschen mit einem großen Herz. Dinamo gesellt sich in meinem Herzen nun also zum VfB und zu Schalke. Ich brauche künftig wohl einen Wochenend-Plan, wenn ich die Spiele all meiner Ex-Klubs verfolgen werde.

"Ich liebe Borschtsch"

Aber was bleibt von Dinamo? Viele Tore! ;-) Fünf aufregende Jahre, fünf erfolgreiche Jahre, fünf schöne Jahre. Sportlich, aber auch für uns als Familie - vom Winter, den wir getrennt verbrachten, abgesehen. Und es bleiben viele neue Freundschaften, Erinnerungen und Anekdoten. Einige habe ich euch an dieser Stelle ja schon erzählt.

Ich weiß gar nicht mehr, ob da dabei war, dass ich immer mit einigen Trikots von mir im Auto herumgefahren bin. Das hat bei so mancher Verkehrskontrolle geholfen ;-).

Meine absolute Lieblingsgeschichte spielte sich jedoch am Flughafen von Grosni ab. Wir waren dort beim Auswärtsspiel gegen Terek. Am Flughafen stehen wir vor einem Metalldetektor in der Schlange.

Die Leute nehmen Schlüssel, Geldbeutel, Handys aus der Tasche, gehen ohne diese Dinge durch und nehmen sie danach wieder ans sich. Da zieht dieser Typ vor mir eine Pistole, legt sie auf die Ablage neben dem Detektor, geht durch und schnappt sich die Pistole wieder. Und ich dachte immer, das Teil steht da, damit man keine Waffen reinschleusen kann...

Suppe funktioniert wie Energy-Drink

Ach ja, ein neues Lieblingsessen habe ich in Russland auch gefunden. Es ist weder Witz noch Klischee: Ich liebe Borschtsch, das russische Nationalgericht, die Suppe mit Kartoffeln, Fleisch, Kohl, rote Beete und Möhren, serviert mit saurer Sahne. Leute, das Zeug wirkt Wunder. Wenn ich müde bin und einen Teller Borschtsch esse, könnte ich danach Bäume ausreißen. Diese Suppe funktioniert wie ein Energy-Drink - nur ganz natürlich ohne Chemie.

Kulinarisch getoppt werden kann Borschtsch höchstens noch von unseren Höchstleistungen am Grill. Oh was werde ich unsere Grillfeste vermissen. Die haben wir oft gefeiert. Im Sommer und im Winter. Meist ganz spontan. Mit Freunden, Nachbarn, Mitspielern. Auf einige traf alles drei zu. Aber ich bin mir sicher, dass ich einige von Ihnen wieder sehen werde. Irgendwie, irgendwo, irgendwann.

Auf hoffentlich bald

Das Gleiche trifft auch auf uns hier bei SPOX zu. Es hat mir Spaß gemacht, an dieser Stelle fünf Jahre lang über mein Leben in Russland zu berichten.

Ich werde auch die Diskussion in den Kommentaren vermissen, ob ich hier selbst geschrieben habe oder nicht. Oder ob das alles frei erfunden ist. Hehe. Eines könnt ihr mir glauben: Alles was hier stand war von mir. 100 Prozent KK22 sozusagen. Und ob mir jemand beim Niederschreiben geholfen hat, ist dabei ja völlig zweitrangig, oder? Die Diskussion über das eine oder andere falsch gesetzte Komma hätte ich nämlich nur schwer ertragen. Aber ich glaube, da bin ich in bester Gesellschaft.

Bis demnächst. Ich melde mich. Versprochen. Ich weiß nur noch nicht, von wo.

Euer Kevin

Kevin Kuranyi, geboren am 2. März 1982 in Rio de Janeiro, gehört zu den besten Stürmern Deutschlands. Von 2001 bis 2005 spielte er als Profi für den VfB Stuttgart, danach wechselte er zum FC Schalke 04. Seit Sommer 2010 trägt Kuranyi nun das Trikot von Dynamo Moskau. Für die Nationalmannschaft war er bislang 52 Mal im Einsatz. Mehr Informationen über Kevin Kuranyi gibt es unter www.kevin-kuranyi.de

Kevin Kuranyi im Steckbrief

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