Mit den eigenen Waffen

Von Für SPOX in Ascona: Stefan Rommel
Fußball, Deutschland, EM 2008, Ballack
© Getty

Ascona - Urs Siegenthaler, Chefscout der deutschen Nationalmannschaft, hatte es einmal übertrieben dargestellt, ein wenig zumindest: "Wenn England im Mittelfeld den Ball erobert, dann rauscht ein Steven Gerrard mit 800 km/h in den gegnerischen Strafraum."

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Von Gerrards Beinahe-Lichtgeschwindigkeit kann man sich bei der EM nicht überzeugen. England ist ja nicht dabei. Michael Ballack ist kein Steven Gerrard, so viel steht fest. Aber dafür ist Ballack einer der torgefährlichste Mittelfeldspieler der Welt.

Gezeigt hat er das beim Mehrnationenturnier in Österreich und der Schweiz aber erst einmal, bei seinem spektakulären Freistoßtor gegen die Österreicher.

Ansonsten las sich die Beschreibung von Ballacks Spiel bisher eher wie Vorzüge eines Neuwagens aus dem niederen Preissegment. Kraftvoll und ausdauernd, mit sehr hoher Laufleistung.

Defensivleistung stimmt

Rund zwölf Kilometer legte der deutsche Kapitän im Schnitt in 90 Minuten zurück. Ein außergewöhnlicher Wert, der in Bezug auf Ballacks Defensivleistung optimistisch stimmt.

Für sein Offensivspiel aber ist er das reinste Gift. Das Spiel der deutschen Nationalmannschaft im 4-4-2-System mit der Doppelsechs Ballack und Torsten Frings greift defensiv sehr gut. Durch die Mitte kassierte die DFB-Elf bisher noch kein Gegentor bei dieser EM.

Zu lange Wege bis zum Tor

Im Spiel nach vorne aber liegt der Schwachpunkt des Systems. Ballack holt sich sehr viele Bälle in der eigenen Hälfte ab, um das Spiel vor sich zu haben und die Angriffe zu initiieren.

Wenn er jetzt aber neben dem Start- auch zum Endpunkt des Angriffs werden soll, ist die Distanz zwischen eigenem und gegnerischem Strafraum zu groß.

Irgendwo auf diesen 60 Metern rinnt ihm seine Torgefahr förmlich wie Sand durch die Finger, ein konzentrierter Torabschluss nach einem langen Spurt im hohen Tempo ist kaum möglich.

Ballack offensiv verschenkt

Ballack ist offensiv wie eine verschenkte Arbeitskraft und eigentlich nur bei Standardsituationen mal gefährlich vor dem Tor. Das System lässt nicht mehr zu.

Bisher hielt Bundestrainer Joachim Löw stur an seiner Taktik und Spielausrichtung fest. Obwohl jeder der drei Gegner bisher in jenem tückischen 4-5-1 aufwartete, das der DFB-Elf überhaupt nicht liegt.

Im Auftaktspiel verhalf die Naivität der Polen zum Sieg, gegen Österreich war Ballacks Freistoß eine der wenigen gelungenen Offensivaktionen.

Und die Kroaten schnürten der deutschen Mannschaft mit ihrem aggressiven und permanent in Überzahl agierenden Mittelfeld komplett die Luft ab.

Dabei hatte Co-Trainer Hansi Flick vor eben jenem Spiel noch selbstbewusst erklärt, man orientiere sich keineswegs am Gegner. "Unsere Grundordnung steht und die ziehen wir auch durch." Ein böser Trugschluss.

"Portugal ist Titelfavorit"

Am Donnerstag wartet in Portugal nun jene Mannschaft, die das System mit nur einem Stürmer und fünf Mittelfeldspielern weltweit salonfähig gemacht hat (ab 20.30 Uhr im SPOX-TICKER).

Mit einer ganzen Armada an offensiven Kreativköpfen, mit Deco, Moutinho, Cristiano Ronaldo oder Simao - alle im Mittelfeld beheimatet. Zusammen mit den Niederlanden die größte Herausforderung bei dieser EM.

"Für mich ist Portugal der Favorit auf den Titel. Das wird ganz schwer für uns, aber wenn wir alles umsetzten, was wir können, wird es interessantes Spiel", sagte Bastian Schweinsteiger, der wohl im linken Mittelfeld von Beginn an zum Zug kommen wird.

Körperlich dagegenhalten

"Eins kann man schon sagen: Wir brauchen mehr Laufbereitschaft und die Bereitschaft, körperlich dagegen zu halten", forderte Teammanager Oliver Bierhoff.

Er übersah dabei aber, dass die deutsche Mannschaft ihre physische Komponente gegen Kroatien gar nicht zum Einsatz bringen konnte - weil sie schlicht gar nicht in die Zweikämpfe kam.

Schuld daran war der zusätzliche Spieler mehr im Zentrum, der die deutschen Mittelfeldspieler im Dreieck rennen ließ und dabei Ball und Gegner fest im Griff hatte. Eine Lösung des Problems wäre eine grundlegende Systemumstellung, entweder auf ein 4-4-2 mit Raute oder eben ein 4-5-1.

Idealkonzept 4-5-1

Die Raute im Mittelfeld würde Ballack defensiv stark entlasten, er könnte so viel mehr für die Offensive machen und den schmerzlich vermissten Ball in die Tiefe auf die Angreifer spielen. Allerdings ist diese Variante gegen die Tempofußballer aus Portugal viel zu offensiv und daher keine Alternative.

Schon eher das 4-5-1. Mit zwei defensiven Abräumern könnte man die Überzahl der Portugiesen aufheben und die gefährlichen Außenspieler Ronaldo und Simao viel leichter doppeln.

Und Ballack als Anspielstation hinter der Spitze hätte einen kurzen Anreiseweg zum Tor und könnte seine Schussstärke endlich auch aus dem Spiel heraus einbringen. Das Problem: Die Löw-Elf hat in diesem System bisher keinerlei Erfahrungen gesammelt.

In die Karten lässt sich der DFB auf keinen Fall blicken und setzt vielmehr auf große Geheimniskrämerei. "Unsere Aufstellung und Taktik werden wir erst kurz vor dem Spiel bekanntgeben", versicherte Bierhoff. Zumindest lässt das noch jede Menge Raum für Spekulationen.

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